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Horst Milde wird 85
So denkt der Erfinder des Berlin-Marathons heute über den Laufsport

| Text: Jörg Wenig | Fotos: photorun.net, Laufszene Events, Imago Images

Horst Milde initiierte und entwickelte viele große Laufveranstaltungen wie den Berliner Marathon. Im Interview blickt er auf 40 Jahre als Race Director zurück und spricht über aktuelle Entwicklungen.

Horst Milde feiert heute (24. Oktober) seinen 85. Geburtstag. Der gebürtige Berliner initiierte und entwickelte über Jahrzehnte hinweg die großen Laufveranstaltungen des SC Charlottenburg Berlin, allen voran den Berlin-Marathon sowie zum Beispiel den Berliner Halbmarathon, den Avon-Frauenlauf, die Team-Staffel, die City-Night, den Silvester- oder auch den Neujahrslauf. Schon bei der Geburtsstunde der breitensportlich angelegten Laufveranstaltungen gehörte Horst Milde, der früher als Mittelstreckenläufer zur erweiterten deutschen Spitze zählte, zu den Initiatoren.

Am 8. November 1964 startete er als Student im Sportreferat der Freien Universität Berlin am Berliner Teufelsberg im Grunewald den ersten Crosslauf. Dieses Rennen war der Ausgangspunkt für die folgenden, bedeutenden Rennen des SCC Berlin. Mit seinem Organisationsteam hat Horst Milde in rund 40 Jahren, fast immer ehrenamtlich arbeitend, gut 1,25 Millionen Menschen in genau 355 Veranstaltungen zum Laufen gebracht.

Fünf Weltrekorde sah der Berlin-Marathon unter seiner Regie, darunter die bahnbrechenden Bestzeiten von Naoko Takahashi und Paul Tergat. Die Japanerin blieb als erste unter 2:20 Stunden, der Kenianer durchbrach als erster die 2:05-Stunden-Barriere. Noch heute organisiert Horst Milde jährlich in Berlin einen 10-Kilometer-Lauf für Gefangene in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee sowie ein Läufertreffen im Jazz-Lokal Schlot. Für sein Lebenswerk wurde Horst Milde vom Internationalen Leichtathletik-Verband (World Athletics) mit dem „Merit of Honour“ ausgezeichnet, und er erhielt das Bundesverdienstkreuz. Hier kannst du dir eine Videodokumentation über die Geschichte des Laufsports anschauen, das Professor Helmut Winter mit Horst Milde eine Dokumentation gedreht hat. Außerdem liest du hier ein ausführliches Interview mit Horst Milde.

Die Lebensgeschichte von Horst Milde im Video und im Interview

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Horst Milde, Sie sind immer noch sehr aktiv und reisen unter anderem auch zu verschiedenen Laufveranstaltungen. Laufen Sie selbst auch noch?
Horst Milde: „Natürlich, altersgemäß laufe ich zurzeit jeden zweiten Tag – bei Sonnenaufgang etwas über eine Stunde durch die Tempelhofer Parks und die Gartenkolonien. An den anderen Tagen mache ich Gymnastik und Übungen auf dem Trampolin. Laufen, Joggen, Bewegen – gerade im höheren Alter ist das ein Muss! Stillsitzen gibt es bei mir nicht.“

Während Ihrer 40-jährigen Zeit als Race-Direktor haben Sie die gesamte Entwicklung des Laufsports miterlebt. Was waren für Sie die wichtigsten Schritte, die der Sport in dieser Zeit gemacht hat?
Horst Milde: „Ganz entscheidend war ursprünglich natürlich, dass der Laufsport seit Mitte der 70er Jahre-überhaupt den Weg von der Bahn beziehungsweise aus dem Wald heraus auf die Straße fand – und dass dabei die nicht vereinsgebundene Bevölkerung inklusive der Frauen eingebunden wurde.“

Können Sie drei entscheidende oder auch bahnbrechende Situationen bei der Organisation der Rennen zwischen 1964 und 2003 nennen?
Horst Milde: „In Berlin war es zunächst 1964 der Berliner Cross-Country-Lauf, bei dem zum ersten Mal Läufer ohne Vereinszugehörigkeit starten durften. Das Rennen wurde in Kooperation mit der Freien Universität Berlin möglich und wurde von den Medien begeistert aufgenommen und unterstützt. Vorher und nachher gab es damals auch kostenlose Trainings-Angebote. 1981 folgte dann der Durchbruch beim Berlin-Marathon, der erstmals in die Innenstadt West-Berlins verlegt wurde – mit Start am Reichstag und Ziel auf dem Kurfürstendamm. Das war ein Aufbruch für die gesamte Berliner Bevölkerung in neue Dimensionen. Die Straßen waren frei von Autos und man konnte dem Nachbarn applaudieren, der plötzlich zum Läufer wurde. Entscheidend waren später auch andere Dinge wie die technische Verbesserung durch die Chip-Zeitnahme, die Entwicklung der Schuhe und die Veränderung der Herangehensweise an den Sport, auch seitens der Ärzteschaft. Es wurde immer klarer, dass der Laufsport ein Teil des täglichen Lebens sein kann, eine Art Kulturgut und eine Bereicherung des Lebens.“

Kurz vor der Wiedervereinigung 1990 lief man beim Berlin-Marathon durchs  Brandenburger Tor
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Der Wiedervereinigungsmarathon am 30. September 1990 ist eine ganz besondere Erinnerung für Horst Milde

Welche spitzensportlichen Höhepunkte haben Sie besonders in Erinnerung?
Horst Milde:
„Es ist zuerst der ,Wiedervereinigungsmarathon’ am 30. September 1990, als der Berlin-Marathon durch Steve Moneghetti mit 2:08:16 Stunden plötzlich eine Weltjahresbestzeit produzierte und Uta Pippig zudem mit 2:28:37 Stunden einen Streckenrekord aufstellte. Dann hatten wir beim 25. Berlin-Marathon 1998 den überraschenden Weltrekord des Brasilianers Ronaldo da Costa mit 2:06:05 Stunden und drei Jahre später den Durchbruch der damaligen Traum-Barriere von 2:20 Stunden im Frauen-Marathon. Damals lief 2001 die japanische Olympiasiegerin Naoko Takahashi 2:19:46 Stunden. Zwei Jahre später fiel eine weitere Barriere in Berlin, als Paul Tergat mit 2:04:55 Stunden die erste Zeit unter 2:05 Stunden erreichte. Abgesehen von Rekorden sollte aber auch ein rein breitensportlicher Höhepunkt genannt werden, der weltweit sportpolitisch in den Blickpunkt rückte: Das ist der Gesamtberliner Neujahrslauf am 1. Januar 1990, bei dem fast 25.000 Teilnehmer aus aller Welt zum ersten Mal seit 38 Jahren wieder durch das geöffnete Brandenburger Tor vom West- in der Ostteil Berlins und zurück laufen konnten.“

Es gibt auch viele kuriose Dinge, die Sie erlebt haben. An welche Geschichten denken Sie in dieser Hinsicht als erstes?
Horst Milde: „In den 80er Jahren starteten rund 1000 Teilnehmer des Berliner Cross-Country-Laufes am Teufelsberg und verschwanden auf der Strecke im Wald. Nach fünf Minuten kamen alle wieder zurück aus dem Wald. Es hatte jemand, der mitten im Wald mit verschränkten Armen stand, ,Fehlstart’ gerufen! Alle Teilnehmer kamen treulich zurück und stellten sich nochmals an die Startlinie, um dann zum zweiten Mal zu starten. Das gab es nicht wieder.“

Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung des Laufsports? Wird der Sport noch weiter an Bedeutung gewinnen?
Horst Milde: „Der Laufsport diversifiziert sich weiter und verliert nicht an Attraktivität. Die Weltrekorde werden so schnell gebrochen, dass man schon die Übersicht verliert. Zum einen sind es technische Verbesserungen vor allem im Bereich der Schuhe, aber leider ist der Missbrauch des Dopings auch nicht zu stoppen. Der Sport wird noch weiter an Bedeutung und Wertschätzung gewinnen, wenn es wieder große Vorbilder gibt, die die Jugend zum Sporttreiben motivieren. Die großen Vorbilder sind leider in der deutschen Leichtathletik abhandengekommen, wobei es im Laufsport aber langsam aufwärts geht. Im Marathon kann sich Bundestrainer Matthias Kohls bei Männern und Frauen über große Fortschritte freuen. Die 2:04:58 Stunden von Amanal Petros beim Berlin-Marathon und weitere Leistungen sind klasse. Dass Veranstalter wie Hannover oder Berlin spezielle Lauf-Teams aufbauen, gibt der Entwicklung einen weiteren Schub für die nächsten Aufgaben wie die Olympischen Spiele in Paris 2024. Enttäuschend für die weitere Entwicklung in Deutschland ist dagegen, dass anscheinend ,Laien’ den Bundesjugendspielen den Leistungsgedanken genommen haben. Sport ohne Sieg oder Niederlage hat in diesem Fall keinen Wert. Im Leben muss man Niederlagen verkraften, das gehört zur menschlichen und psychischen Entwicklung dazu. Genauso enttäuschend ist, wenn für ‚Jugend trainiert für Olympia und Paralympics‘ die Finanzierung nicht mehr sicher ist. Dann fehlt dem deutschen Sport in allen Sparten der ‚Nachschub‘ für die wichtigen späteren Leistungsträger. Ich war neulich in Berlin bei einem Schul-Crossrennen eines Stadtbezirkes. Das hat mich an unseren Cross 1964 erinnert. Die Begeisterung für den Laufsport war den Kindern anzusehen!“

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Seit 20 Jahren Beobachter der Laufszene aus anderer Position

Seit 20 Jahren beobachten Sie die Laufszene aus einer anderen Position heraus. Was wäre der wichtigste Rat, den Sie Ihren Nachfolgern geben würden?
Horst Milde: „Da bin ich vorsichtig: Meinen Nachfolgern beim Berlin-Marathon braucht man wohl keinen Rat zu erteilen, 13 Weltrekorde seit 1974 sind nicht zu toppen und der größte Marathon in Deutschland zu sein, das ist ein Erfolg, der für sich spricht. Der Berlin-Marathon ist zum einen Ausdruck des Spitzen- beziehungsweise Leistungssportes. Aber er ist und bleibt auch Motor des Breiten- und Gesundheitssportes. Das Rennen ist ein Motivator für Jedermann für das eigene tägliche Training, so wie das Zähneputzen. Zudem ist der Lauf durch den integrierten Mini-Marathon für Schüler und auch den Bambinilauf für Kinder ein Förderer des Jugend- und Schulsports. Das Angebot des Berlin-Marathons ist umfassend für die Bevölkerung und deswegen so beliebt. Die Ehrenamtlichkeit ist wohl heute auch ein Problem geworden. Immer weniger stellen sich ‚für die gute Sache‘ zu Verfügung. Hier wird in Zukunft viel Fingerspitzengefühl erforderlich sein. Dabei darf man als Veranstalter nicht alles unter Marketing-Gesichtspunkten sehen. Generell darf man nicht vergessen: Man muss über den eigenen Tellerrand gucken, um voranzukommen. Im Ausland geht die Entwicklung oft schneller. Die USA sind uns schon immer im Sport mehrere Schritte voraus. Stillstand ist Rückschritt auch im Laufsport. Insofern darf man sich nicht ausruhen.“