Anna Hahner vor Berlin: „Fast wie ein Debüt“

| Interview: Christian Ermert | Fotos: BMW AG
Anna Hahner läuft in Berlin ihr erstes Rennen über die klassische Distanz seit Olympia in Rio. Hier spricht sie über Ziele, Vorbereitung und Olympia.

Am Sonntag werden 406 Tage vergangen sein, seitdem Anna Hahner (run2sky.com) ihren letzten Marathon beendet hat. Am 14. August 2016 lief sie bei Olympia in Rio als 81. nach 2:45:32 Stunden Hand in Hand mit ihrer Zwillingsschwester Lisa ins Ziel. An 139 Tagen von diesen 406 ist sie keinen Schritt gelaufen. So lange hat es gedauert, den Riss der Sehne auszukurieren, die ihre Muskulatur an der Rückseite des rechten Oberschenkels mit dem Becken verbindet. Am Sonntag (24. September) um 9:15 Uhr (live im Ersten) tritt die 27-Jährige beim BMW Berlin-Marathon wieder zum Rennen über die 42,195 Kilometer an. Wir haben sie wenige Tage vor dem Rennen in Bad Saarow vor den Toren Berlins zum Interview getroffen. Sie zieht die Ruhe am Scharmützelsee für die letzten Tage der Vorbereitung dem Trubel in der Hauptstadt vor. Hier liest du, wie sie die lange Verletzungspause durchstanden hat und was sie sich für das Rennen am Sonntag vorgenommen hat.

Anna Hahner, was hast du dir für deinen ersten Marathon nach über einem Jahr vorgenommen?
Ich möchte 360 Meter hinter dem Brandenburger Tor die Ziellinie gesund und mit einem Lächeln erreichen. Dann wird die Zeit auch stimmen. Und ich bin jetzt schon glücklich, mit der Vorbereitung auf Berlin den Marathon vor dem Marathon geschafft zu haben und gesund an der Startlinie zu stehen. Berlin ist mein elfter Marathon, aber irgendwie fühlt sich das ein bisschen an wie ein neuer, erster Marathon. Meine Zielsetzung ist auch eine andere als bei den neun Marathons zuvor: Da wollte ich immer die 42,195 Kilometer in einer bestimmten Zeit laufen, jetzt bin ich einfach froh, den Marathon wieder laufen zu dürfen.

Seit deinem Auftritt beim olympischen Marathon in Rio, als du Hand in Hand mit deiner Zwillingsschwester Lisa als 81. Ins Ziel gelaufen bist, war es sehr ruhig um dich …
… ich bin ja danach auch genau 139 Tage keinen Schritt gelaufen. Außer morgens zum Bäcker bin ich nicht mal viel gegangen. Diese Pause war notwendig, um die Verletzung komplett auszukurieren, wegen der ich 2016 keine Trainingseinheit ohne Schmerzen absolvieren konnte.

Das war ja fast ein halbes Jahr ohne Sport – womit füllt eine Profi-Athletin denn ihren Tag, wenn Laufen unmöglich ist?
Als erstes bin ich für eine Woche in ein Kloster gegangen, als ich nach Rio wieder zu Hause war. Ich wollte mal die komplette Ruhe haben. Seitdem meditiere ich jeden Morgen. Ich glaube, das hat mir in der Laufpause das gegeben, was mir sonst das Laufen gibt.

Wie kann man sich diese Meditationen vorstellen?
Es geht dabei darum, mit den Gedanken ganz im Hier und Jetzt zu sein. Die Gedanken zuzulassen, ohne sie zu bewerten. Das funktioniert beispielsweise, indem man bei jedem Atemzug zählt. Ich zähle dabei natürlich immer bis 42.

Und was bewirkt das?
Vor allem mehr Gelassenheit und Zufriedenheit. Mir hat es auch geholfen, kleine Fortschritte im Training zu würdigen. Und wenn man am Abend vor einem Wettkampf um neun Uhr ins Bett gehen will, um sehr früh, sehr ausgeruht aufzustehen, hilft das, zur Ruhe zu kommen und einzuschlafen, ohne dass die Gedanken Karussell fahren. Ich habe mir aber auch immer wieder ganz konkret vorgestellt, wie schnell laufen geht. Das hat dazu beigetragen, es nicht zu verlernen.

Das Nichts-Tun so konsequent durchgezogen wie das Training

Was war denn schwieriger: So viele Wochen ganz auf Sport zu verzichten oder die Marathonvorbereitung, die nach der langen Pause fast bei null losgegangen sein muss?
Als die Pause begann, wusste ich ja noch nicht, wie lang sie sein würde. Ich habe mich von jedem Druck frei gemacht und mir gesagt: Es braucht so lange, wie es braucht. Und ich wusste ja genau, warum ich diese Pause mache: Um im Alltag und beim Laufen wieder schmerzfrei zu sein. Ich habe das Nichts-Tun so konsequent durchgezogen wie sonst das Training. Als der Tag dann da war, an dem ich erstmals wieder schmerzfrei laufen konnte, war ich super happy. Die schwierigste Phase war die vom 1. Januar bis Anfang Juli, als es darum ging, meinen Körper wieder in die Bereitschaft für ein echtes Marathontraining zu versetzen. In dieser Zeit ging es ständig auf und ab. Oft tauchten neue Beschwerden auf, die nichts mit der Sehne zu tun hatten, sondern damit, dass mein Körper die großen Belastungen nicht mehr gewohnt war und sich dem Training anpassen musste.

Wie hat denn dein Körper auf die lange Pause reagiert?
Es war spannend zu beobachten, wie alles weich wurde, die Muskulatur verschwand und ich drei, vier Kilo zugelegt habe. Als meine Oma irgendwann meinte, ich sähe richtig gut aus, war mir klar, dass ich gut im Futter stehe. Mein Appetit war zwar weniger geworden, aber das Wettkampfgewicht zu halten ist, in so einer Phase unmöglich. Aber darum ging es ja auch nicht.

Welche Rolle spielt denn der italienische Trainer Renato Canova noch in deiner Trainingsplanung?
Er berät uns, aber für mein Training war in diesem Jahr Thomas Dold verantwortlich. Beim Neuanfang nach so einer langen Verletzungspause funktioniert eine Betreuung aus der Ferne einfach nicht. Mir fällt es immer schwer, zu akzeptieren, dass ein Trainingsplan vor allem ein Vorschlag ist. Wenn da vier bis fünfmal 5 Kilometer steht, habe ich immer fünf gemacht. Ich habe gedacht, ich zeige Schwäche, wenn ich den Plan nicht zu 100 Prozent umsetze. Deshalb haben wir uns dieses Jahr entschieden, jedes Training mit Feedback von Thomas zu machen. Im Trainingslager ware ich dieses Jahr auch nicht. Ich habe das ganze Training daheim im Schwarzwald gemacht, weil da in unmittelbarer Nähe vorhanden ist: Physiotherapie, Krafttraining, meine Radstrecken und die Rolle fürs Rennradfahren, wenn’s Wetter zu schlecht ist.

Wie beginnt man eigentlich als Profi-Athlet nach so einer langen Pause wieder mit dem Training. So wie Laufeinsteiger – mit Laufen und Gehen im Wechsel?
Zunächst mal habe ich an einer Krafttrainingsmaschine die Muskulatur gemessen, dann mit dem Pysio und leichten Gewichten die Muskulatur rund um die Verletzung wieder aufgebaut. Dann folgten erste Einheiten auf dem Liegefahrrad, viel Krafttraining, Yoga und Slackline. Als nächstes kam dann Radfahren und Schwimmen. Und am 1. Januar bin ich dann wieder losgelaufen. Nicht ganz langsam, sondern direkt im 4:30er-Schnitt pro Kilometer. Nach einem Kilometer war ich völlig außer Puste. Dann habe ich halt eine Gehpause gemacht und danach ging es weiter. Bis heute ist der Anteil von Radtraining hoch. Das hat phasenweise 70 Prozent der Trainingszeit ausgemacht. Manchmal trainiere ich wie Erik Zabel, habe Elemente aus seinen Trainingsplänen auf dem Rad gemacht. Noch in der Woche nach den deutschen Zehn-Kilometer-Meisterschaften in Bad Liebenzell (wo sie Zweite in 33:45 Minuten war; Anm. der Redaktion) vor drei Wochen habe ich eine 100 Kilometer lange Radtour gemacht. Um muskulären Dysbalancen vorzubeugen, trainiere ich auch oft jedes Bein einzeln. Nicht nur beim Krafttraining, sondern auch auf dem Rad. Da trete ich eine Minuten lang nur mit rechts, dann eine Minute lang nur mit links. Das sieht witzig aus, sorgt aber dafür, dass das stärkere Bein nicht die Arbeit für das schwächere machen kann.

Wenn ich - wie in Rio - eine schlechte Leistung liefere, bin ich noch lange kein schlechter Mensch

Nach dem Olympia-Marathon von Rio mussten du und deine Schwester Lisa viel Kritik dafür einstecken, nach einer nicht guten Leistung Hand in Hand und lächelnd ins Ziel gelaufen zu sein. Die Kommentare gingen von sachlicher Kritik, so den Eindruck erweckt zu haben, bei Olympia nicht alles gegeben und die Spiele als PR-Bühne genutzt zu haben, bis zu Häme in den sozialen Medien. Wie bist du damit umgegangen?
Die negativen Äußerungen haben mich schon getroffen. Aber es gab ja auch viele positive Reaktionen. Und die kamen meist von Menschen, die uns persönlich wichtig sind. Die Kritik wurde ja meistens anonym geäußert, oder von Leuten auf Facebook, deren Namen man liest, zu denen man aber keinen Bezug hat. Ich habe auch viel darüber nachgedacht und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass Lisa und ich weiter so offen und freundlich sein wollen, auch wenn uns das manchmal angreifbar und verletzlich macht. Aber das ist für uns der richtige Weg. Wir wollen vor allem auch andere fürs Laufen begeistern und zeigen, dass es nur positive Effekte hat, wenn man sich bewegt. Es gibt nichts Gesünderes. Ich definiere mich auch nicht nur über den Leistungssport. Wenn ich eine schlechte Leistung abliefere – so wie in Rio – dann bin ich sehr enttäuscht, aber noch lange kein schlechter Mensch.