Volle Kraft zurück!
Deswegen ist Rückwärtslaufen so gut
Rückwärtslaufen kann eine wertvolle Ergänzung zum normalen Gehen und Laufen sein: Der Bruch mit der Routine schärft die Sinne, ist gut für den Körper und bringt Freude in die Trainingsroutine.
Es gibt genau eine Sportart, bei der man sich nicht vorwärtsbewegt: Rudern. Und auch da gibt es – zumindest in einigen Varianten – mit dem „Schlagmann“ (der auch eine Frau sein kann) oft jemanden an Bord, der oder die in jene Richtung schaut, in die man sich bewegt. Aus naheliegenden Gründen – obwohl auf dem Wasser meist weniger Hindernisse lauern, als auf festem Boden.
Darum mutet es ein wenig absurd an, Läuferinnen oder Läufern zu empfehlen, hin und wieder den „Retourgang“ einzulegen und rückwärts zu gehen. Oder zu laufen: Ganz abgesehen von der ungewohnten Bewegungsabfolge ist es ja tatsächlich nicht schlau, nicht zu wissen, wo genau man hingeht: Bodenunebenheiten, Randsteine, Wurzeln – wenn es ganz blöd kommt ein Passant oder eine Radfahrerin. Oder ein Baum, ein (hoffentlich stehendes) Auto. Oder ein Gebäude: Wozu haben wir die Augen vorne, wenn wir uns verrenken müssen, um zu sehen, wohin es geht? Wozu soll Rückwärtsgehen also gut sein?
Tatsächlich ist es aber keine schlechte Idee, den Rückwärtsgang ins Lauf- oder zumindest Spazierprogramm einzubauen. Ein wenig zumindest. Weil dieses auch „Retro-Gehen“ genannte Laufen oder Gehen Sinne, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit schärft. Wieso Letzteres? Weil alles Ungewohnte die einstudierte Logik und Routine von Bewegungsabläufen durchbricht. Das zwingt zu genauerem Sehen und Denken. Das macht achtsamer und bewusster.
Die Koordination und das Balancegefühl schulen
Routinen aufzubrechen, hilft dem Körper aber auch, sich in unerwarteten Situationen generell rasch und automatisch anzupassen. Wir wissen: Wer regelmäßig das Lauf-ABC – also Lauftechnik – übt, schult dabei nicht nur die Koordination, sondern nebenbei auch Reaktionsfähig- und -geschwindigkeit des Bewegungsapparates.
Dadurch können kleine Stolperer beim Laufen oft noch korrigiert werden, ohne umzuknicken oder zu stürzen. Meist bemerkt man diese Reaktion nicht einmal. Doch dieses vermeintlich „Instinktive“ ist angelernt – und will geübt sein.
Ähnliches gilt für das Rückwärtslaufen: Das dafür nötige „Dekonstruieren“ der Geh- und Laufbewegung, schult nicht nur Koordination und Balancegefühl, sondern auch die Reaktivität und das (unbewusste) Muskel- und Bewegungsvermögen – eben, weil wir nicht nur das Standardprogramm, die Routine, beherrschen.
Viele Vorteile des Rückwärtslaufens
Da genügen Kleinigkeiten: Etwa, dass der Gleichgewichtssinn hier gefordert wird, weil der Körperschwerpunkt durch die Richtungsänderung verschoben wird – das erfordert eine bewusstere, etwas veränderte und auch intensivere Stabilisierungsarbeit der Rumpfmuskulatur.
Doch das ist längst nicht alles. Rückwärtslaufen trainiert auch Teile und Bereiche der Beinmuskulatur, die sonst weniger intensiv beansprucht werden. Es hilft, Rückenschmerzen, speziell durch falsche Haltung und langes Sitzen verursachte Beschwerden im unteren Rücken- und Lendenwirbelbereich, zu lindern oder zu vermeiden.
Es belastet die Knie kaum und hilft – betonen etwa Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der „School Of Healthcare Sciences“ in Cardiff (GB) – bereits bestehende Knieschmerzen zu reduzieren. Es entlastete die Sehnen im Knie und aktiviert aber, da ungewohnt, das allgemeine Energieniveau. Und das regt wiederum den Stoffwechsel an.
Besser schlafen durch den Richtungswechsel
Rückwärtslaufen soll auch helfen, besser zu schlafen. Und laut einer Studie der südafrikanischen „University of Stellenbosch“ tut die Kombination von Vorwärts- und Rückwärtslaufen der „kardiorespiratorischen Fitness“ gut. Auf deutsch: Die Fähigkeit der Atmung und des Blutkreislaufs, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen, wird erhöht. Die nimmt nämlich mit dem Alter ab – und das wiederum erhöht die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Wer Rückwärtsgehen in den Trainingsplan aufnimmt, muss das zwar nicht immer mit wissenschaftlich-medizinischem Ernst oder allzu viel Ehrgeiz tun, aber doch eines wissen: Es gibt auch hier Wettkämpfe und Rekorde. Und bei Marathonevents trifft man oft Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die den Wettbewerb „Rücken-Voraus“ bestreiten. Und dementsprechend systematisch trainieren.
Das ist Rückwärtslaufen – biomechanisch gesehen
Biomechanisch ist der Rückwärtsgang längst genau aufgeschlüsselt. „In der Schwungbeinphase wird das Bein aktiv über die Hüftextensoren nach hinten geführt, wo der Fuß mit dem Vorfuß zuerst aufgesetzt und langsam von der Dorsalextension bis in die Plantarflexion abgerollt wird. In der Standbeinphase wird der Körper hauptsächlich durch eine aktive Kniestreckbewegung rückwärts beschleunigt“, zitierte das „Funktional Training Magazin“ schon 2014 aus der wissenschaftlichen Literatur.
„Die Hüftflexoren arbeiten beim Rückwärtsgehen exkonzentisch – genau wie es die Hamstrings beim Vorwärtsgehen tun – d.h. sie werden in der Schwungbeinphase exzentrisch gelängt.“ Faszinierend – aber wer unterwegs versucht, derlei hochseriös-wissenschaftliche Rückwärts-Aufschlüsselungen mitzudenken, wird wohl schon beim Vorwärtsgehen über die eigenen Beine stolpern.
Locker beginnen und dann steigern
Dennoch schadet es nicht, sich das Rückwärtslaufen auch als Zwischendurch-Übung mit Struktur zu erarbeiten. Ablauf und Aufbau sind ja keine Raketenwissenschaft: Anfangs ist es sinnvoll, immer wieder kurz und zwischendurch rückwärtszugehen. Damit der Körper sich daran gewöhnt. Danach steigert man langsam und sukzessive Dauer und Tempo.
Wer sich unsicher fühlt, wer Boden oder Beinen nicht ganz traut, kann auf einem Laufband beginnen: Die Handläufe, aber auch der feste, sich nicht bewegende Rand geben Sicherheit.
Gerade am Anfang, wenn jeder Schritt „mitgedacht“ werden muss, ist das nicht unwichtig: Im Gegensatz zum normalen, gewohnten Vorwärtsgehen und -laufen, haben wir rückwärtslaufen nicht von klein auf intus und automatisiert: Bis man so weit ist, dauert es.
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Koordination, Herz und Kreislauf in Schwung bringen
Bis dahin wird jeder Schritt bewusst gemacht – da arbeitet das Gehirn tatsächlich auf Hochtouren. Darum verbrennt der Körper beim Rückwärtsgehen auch mehr Energie als er es im Vorwärtsgang bei gleichem Tempo täte.
Auch Medizinerinnen und Mediziner wissen, dass rückwärtslaufen gesund ist. Dr. Thomas Schneider, Leiter des Bewegungs- und Ganganalysezentrums der Gelenk-Klinik Gundelfingen etwa, wird immer wieder damit zitiert, dass Rückwärtsgehen „eine tolle Übung“ ist. Es hilft, so der Orthopäde, „Koordination, Herz und Kreislauf in Schwung zu bringen“. Besonders vorteilhaft sei auch, dass es bei der Landung auf der Ferse keinen Aufprall gibt. „Da der Auftritt beim Rückwärtsgehen auf dem Ballen erfolgt, wird das Fersenfettpolster nicht belastet.“
Einfach mal ausprobieren!
Eine kleine Warnung gibt der Arzt aber doch mit auf den (Rück)-Weg: „Rückwärtsgehen eignet sich als Trainingsergänzung, ist aber ungeeignet als häufige Fortbewegungsart oder bei langen Wegstrecken.“ Gefahren gebe es durchaus: Der Nacken wird durch ständiges Umdrehen belastet – und die höhere Stolper- und Unfallgefahr zu erwähnen, gehöre ebenfalls zur ärztlichen Sorgfaltspflicht.
Abgesehen von trainingstechnischen, physiologischen und medizinischen Aspekten kann Rückwärtslaufen aber in jedem Fall eine launige Abwechslung und ein fröhlicher Farbpunkt im Trainingsalltag sein: Es kann, darf soll und wird auch einfach nur Spaß machen.