EM Spezial: Gina Lückenkemper zählt in Berlin zu den Goldkandidatinnen

EM Spezial: Gina Lückenkemper zählt in Berlin zu den Goldkandidatinnen

| Text: Anja Herrlitz | Fotos: Michael Handelmann, Imago

Es ist das größte Sport-Event des Jahres in Deutschland: Vom 6. bis 12. August finden in Berlin die Leichtathletik-
Europameisterschaften statt. Und Gina Lückenkemper zählt zu den Goldkandidatinnen. Uns hat sie verraten, dass sie früher mal Läuferin war. Und wie sie bei ihrem Pferd Picasso abschalten kann.

Es ist das größte Sport-Event des Jahres in Deutschland: Vom 6. bis 12. August finden in Berlin die Leichtathletik-Europameisterschaften statt. Am Start: Gina Lückenkemper. Die Leverkusenerin zählt im Sprint zu den Goldkandidatinnen. Ruhe und Ausgleich findet die Ausnahmesprinterin, die zu Beginn eher Läuferin war, bei ihrem Pferd Picasso. Hier lernst du die 21-Jährige kennen, die im vergangenen Jahr die 100 Meter unter elf Sekunden gelaufen ist.

Beim Sprinten spürt Gina Lückenkemper den Nervenkitzel, jede Hundertstel zählt, es kann nie schnell genug sein. Aber bei ihrem Pferd Picasso lässt die 21-Jährige los. Hier entschleunigt sie, findet Ruhe, Abstand und Entspannung. Auch hier zählt jede Sekunde – aber es können niemals zu viele sein, die sie mit ihrem Pferd verbringt. Die Sprinterin wandelt zwischen den Welten, ist in jeder daheim und fühlt sich wohl.

Gina Lückenkemper gehört derzeit zu den ganz großen Sprinthoffnungen Deutschlands. Wer über 100 Meter bei den Frauen unter elf Sekunden bleibt, gehört zu den ganz Großen. In Deutschland haben das überhaupt erst sieben Sprinterinnen geschafft. Und nachdem es 26 Jahre lang keiner Deutschen mehr gelungen war, sprintete Lückenkemper im vergangenen Jahr bei der WM in London 10,95 Sekunden.

„Es hat sich nicht anders angefühlt, als eine Zeit über elf Sekunden, aber das Gefühl danach war unbeschreiblich“, erzählt Gina Lückenkemper mit einigen Monaten Abstand. Und fügt lachend hinzu: „Und es ist geil zu wissen, dass ich als einzige aktive Sprinterin aus Deutschland bei der Bestzeit keine elf vor dem Komma habe. Und auf dem Papier sieht eine Zehn halt auch besser aus als eine Elf.“

Was nicht heißen soll, dass sich die Sprinterin vom TSV Bayer 04 Leverkusen mit den anderen deutschen Sprinterinnen nicht versteht. Ganz im Gegenteil. Zickenkrieg sucht man hier vergeblich. Die Schnellsten Deutschlands sind alle jung, sie kommen aus der ganzen Republik und sie sind ein echtes Team. Sie besuchen sich im Training, um voneinander zu profitieren. „Wir wollen alle schnell sein und wir begegnen uns mit Respekt“, sagt Gina Lückenkemper. „Ich glaube, das ist essentiell. Nur so können wir auch als Staffel richtig erfolgreich sein.“

Und dafür arbeitet Gina Lückenkemper Tag für Tag mit ihrem Trainer Uli Kunst. „Uli hat unglaublich viel Erfahrung.“ Der 67-Jährige hat schon in vielen Ländern die unterschiedlichsten Athleten betreut. Und das sieht Lückenkemper als Vorteil. Sie selbst bezeichnet sich als „nicht so einfache Athletin. Wenn mein Kopf nicht mitmacht, kann ich das Training knicken“. Kunst hat dafür Verständnis und bringt das nötige Feingefühl mit.

Dieses Jahr haben beide ein großes Ziel vor Augen: die Heim-EM im August im Berliner Olympiastadion. „Vor Heimpublikum zu laufen, ist etwas ganz Besonderes. Und das Berliner Olympiastadion ist für mich dazu noch eines der schönsten der Welt“, freut sich die 21-Jährige. Vor zwei Jahren gewann sie bei der EM in Amsterdam jeweils Bronze über 200 Meter und mit der 4x100-Meter-Staffel. Und auch dieses Jahr will sie mit zwei Medaillen die Heimreise antreten. Die erste kann sie schon am ersten EM-Abend im Olympiastadion holen: Am 7. August steht das 100-Meter-Finale der Frauen auf dem Programm.

Dafür gibt es übrigens noch Karten, die du hier bestellen kannst.

Nebenbei studiert sie Wirtschaftspsychologie in Bochum. Wenn ihr dann nach Training und Uni der Kopf brummt, fährt Gina Lückenkemper in den Stall zu ihrem Pferd Picasso. Seitdem sie fünf ist, reitet sie, vor zwei Jahren erfüllte sie sich den langgehegten Traum von einem eigenen Pferd. An vier Tagen in der Woche ist sie normalerweise im Stall, immer wenn sie keine Zeit hat, kümmert sich eine Freundin um Picasso. „Meistens sage ich, ich fahre nur mal kurz in den Stall. Aber oft bin ich dann doch mindestens zwei Stunden da. Gerne auch mal länger“, erzählt sie lachend.

Dort findet die quirlige Sprinterin Ruhe. „Das ist für mich Entspannung pur – egal was ich mache. Ob ich ihn vom Schlamm befreie, oder ob ich mit ihm eine Runde reite oder spazieren gehe. Für mich ist das Seelenheil, meine Therapie.“

Doch auch hier ist Köpfchen gefragt. „Picasso ist ein unfassbar intelligentes Pferd, das unglaublich schnell lernt. Er ist ein kleiner Streber, der dem Menschen gefallen will und alles dafür tut“, erzählt Gina Lückenkemper schmunzelnd. Was aber auch bedeutet, dass sie gefragt ist. Sie muss ihr Pferd beschäftigen, sich immer etwas Neues für ihn ausdenken. Derzeit versucht sie, ihm beizubringen, sich auf Kommando hinzulegen. Eine große Herausforderung für ein Fluchttier, das am Boden liegend wehrlos ist.

Reiten kann auch Training fürs Laufen sein

Aber Picasso vertraut ihr – und sie ihm. Beide kennen sich gut. Gina Lückenkemper hat ihr Pferd mit einer Freundin zusammen eingeritten und weiß deshalb immer genau, wie seine Laune ist. „Ich reite nur auf ihm, wenn wir beide gut drauf sind“, sagt sie. Sie will keine Verletzung riskieren.

Generell aber glaubt sie, dass ihr das Reiten auch für das Sprinten hilft. „Ich kann damit Muskelgruppen trainieren, die ich sonst nicht so intensiv erreiche“, meint sie. Die Adduktoren an den Oberschenkelinnenseiten zum Beispiel. Die muss sie dann beim Krafttraining nicht mehr trainieren, dafür aber die Außenseiten, damit es zu keinem Ungleichgewicht in der Muskulatur kommt. Und die gerade Haltung beim Reiten fordert auch ihre Bauchmuskeln. „Mein Coach ist einer der größten Befürworter des Reitens“, sagt sie.

Noch mehr befürwortet er aber natürlich, wenn sie rennt. Und das hat Gina Lückenkemper schon immer gern getan. Seitdem sie sieben Jahre alt war, macht sie Leichtathletik. Dass sie irgendwann einmal Sprinterin werden würde, war aber nicht von vornherein klar. „Früher bin ich viel Langstrecke gelaufen“, verrät sie. Bis sie etwa zehn oder elf Jahre alt war, lief sie Strecken bis zu 10 Kilometer – und die in weniger als 55 Minuten. „Aber ich gebe zu, dass ich dafür mittlerweile zu faul bin. Ich laufe mich beim Training nicht einmal mehr ein, sondern gehe mich warm“, erzählt sie und lacht. Mit ihrem Pferd müsse sie schließlich auch erst einmal Schritt reiten bevor sie trabe oder galoppiere. Wieso solle sie es anders machen?

Ein ganz besonderes Erlebnis hatte Gina Lückenkemper im vergangenen Jahr. Die Soesterin hat bei dem internationalen Kinderhilfswerk „Plan International Deutschland“ eine Patenschaft für ein Mädchen in Ghana übernommen. „Die Reise war für mich sehr emotional. Ich bin durch ein Land gereist, in dem die Leute teilweise kein fließend Wasser haben, was für uns eine Selbstverständlichkeit ist.“ Umso mehr begeisterte sie das Wasserprojekt von „Plan International Deutschland“, das die Wasserversorgung in Ghana verbessern soll. So sehr, dass sie selbst 5000 Euro von den Prämien spendete, die sie von ihrem langjährigen Ausrüster Adidas erhalten hatte.

In Afrika selbst wurde sie mit offenen Armen empfangen, alle wollten sie an ihrem Leben teilhaben lassen und ihr zeigen, wie sie leben. „Der emotionale Höhepunkt war für mich natürlich, als ich mein Patenkind Annabella, ihre Schwester Isabella und die ganze Familie samt Großmutter kennengelernt habe. Das war sehr bewegend für uns alle“, blickt Gina Lückenkemper zurück. Und auch aus diesem Erlebnis wird sie Kraft gezogen haben. Kraft, die sie in diesem Sommer wieder zu schnellen Zeiten treibt. Zuletzt holte sie sich in Nürnberg die Deutsche Meisterschaft über 100 Meter – in 11,15 Sekunden. Aber im Berliner Olympiastadion will sie noch schneller sein.