Laufhistorie
Meilensteine: Diese Läuferinnen eroberten den Laufsport für alle Frauen
Dass Sifan Hassan mit drei Medaillen zum Olympia-Star von Paris werden konnte, verdankt sie auch einer Reihe von starken Läuferinnen, die das Laufen für Frauen gegen große Widerstände eroberten.
Am 11. August 2024 gewann Sifan Hassan die Goldmedaille in Paris. Der Frauenmarathon war das letzte Event und das krönende Highlight der Olympischen Sommerspiele 2024 und Bilder der niederländischen Athletin gingen um die Welt. Es war ein Höhepunkt in der Entwicklung des Frauenlaufsports, der schon 1896 fast unbemerkt und von den Männern verpönt seinen Anfang nahm, als eine Griechin die olympische Marathonstrecke von Marathon nach Athen lief.
128 Jahre später lief die 32-jährige Sifan Hassan in den olympischen Wettbewerben von Paris inklusive Vorlauf über 5.000 Meter mehr als 62 Kilometer, holte Bronze über 10.000 Meter und 5.000 Meter und brach den olympischen Rekord im Marathon. Damit sorgte die Niederländerin für atemberaubende olympische Momente und zerschmetterte ein für alle Mal den Jahrhunderte alten Glauben, der weibliche Körper sei nicht für solche Belastungen gemacht.

Antikes Olympia ohne Frauenwettbewerbe
Schon im antiken Griechenland sahen sich Frauen mit großen Hindernissen konfrontiert. Am Original der Olympischen Spielen durften sie nicht teilnehmen – auch wenn es auf den Bildern von der Entzündung des Olympischen Feuers für die modernen Spielen in Olympia so wirkt. Events, an denen beide Geschlechter teilnehmen durften, gab es in der Antike − soweit wir wissen − nicht. Allerdings: Mit den Heräen sind Wettkämpfe überliefert, die Frauen vorbehalten waren. Sie maßen sich im Laufen über 160 Meter. Das Sportfest fand statt im Rahmen von Feierlichkeiten zu Ehren der Göttin Hera, Schutzpatronin der Frauen und Familien. Am bekanntesten war das „Event“ in der Stadt Olympia, wo es alle vier Jahre abgehalten wurde. Kommt dir bekannt vor? Olympia ist, wenig überraschend der Ursprung der olympischen Spiele, in denen Teilnehmer erstmals im Jahr 776 vor Christus alle vier Jahre gegeneinander antraten. In den ersten 13 Olympiaden war das Laufen die einzige olympische Disziplin- genauso wie bei den Heräen.
Die einzige Überlieferung der Frauenspiele stammt vom Schriftsteller Pausanias, der die Wettkämpfe wohl während einer Reise beobachtete. Besonderes Augenmerk richtete der Gelehrte auf die Kleidung der Athletinnen, diese trugen nämlich den Chiton. Ein kurzes Gewand, dass traditionell die rechte Brust der Frau entblößte. Dieses Gewand wurde vor allem von spartanischen Mädchen getragen, was die Vermutung nährt, dass viele der Läuferinnen aus der Militärhochburg anreisten.
In Sparta war der antike Frauensport wohl am ausgeprägtesten. Archäologische Funde lassen darauf schließen, dass sich hier eine in Grundzügen emanzipierte Gesellschaft entwickelte. Frauen hatten die Aufgabe, körperlich fit zu sein, um gesunde, starke Kinder gebären zu können. Es wurde also auch Frauen nahegelegt, ihren Körper durch Sport zu stählen und sich sogar im Wettkampf miteinander zu messen.
In der römischen Kaiserzeit endete dann die Geschichte des antiken olympischen Sports. Am Ende des vierten Jahrhunderts wurden im Zuge der Christianisierung des römischen Reichs alle heidnischen Zeremonien von Kaiser Theodosius I. verboten.
Schon 1896 lief die erste Frau einen Olympiamarathon
Rund 1500 Jahre später gründete der Historiker und Sportfunktionär Pierre de Coubertin das Internationale Olympische Komitee (IOC), um den olympischen Sportgeist wiederzubeleben. An Frauensport dachte er dabei nicht. Am 6. April 1896 traten 241 Männer bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit in Athen an. Frauen durften nicht starten. Coubertin war dagegen und fiel immer wieder mit misogynen Aussagen auf. 1925 trat er zurück. Ein Grund: Die zunehmende Teilnahme von Frauen missfiel ihm.
Eine Frau versuchte allerdings schon 1896 zu starten. Ausgerechnet im Marathon, einer Disziplin, in der Frauen erst 1984 erstmals bei Olympia antreten durften: Stamatia Rovithi soll eine verarmte griechische Witwe gewesen sein, die auf der Suche nach Arbeit regelmäßig lange Strecken zu Fuß bestritt. Von der Teilnahme am Marathon soll sie sich der Überlieferung zufolge eine bessere berufliche Perspektive erhofft haben. Als sie aber im Örtchen Marathon ankam, von dem aus das Rennen über circa 40 Kilometer nach Athen führte, wurde sie verspottet und nicht zum Wettkampf zugelassen.
Davon ließ sie sich allerdings nicht aufhalten. Am 11. April 1896, einen Tag nachdem sich die Athleten auf den Weg nach Athen gemacht hatten, lief Rovithi los. Nach fünfeinhalb Stunden kam sie in Athen an. Ihre Zeit wurde von mehreren Zeugen bestätigt. Der Einlauf in das Kallimarmaro Stadion, dem offiziellen Endpunkt des Marathons, wurde ihr allerdings untersagt. Dennoch gilt Stamatia Rovithi als die erste Frau der Neuzeit, die eine Marathon-Strecke bei den Olympischen Spielen lief.

1928 in Amsterdam: Erstmals Frauenwettbewerbe bei Olympia
In der Leichtathletik wurden Frauenwettbewerbe erst 1928 bei den Spielen von Amsterdam olympisch. Darauf folgte aber gleich ein großer Rückschlag für den Frauenlaufsport. Nachdem in Amsterdam zwei 800-Meter-Läuferinnen hinter der Ziellinie erschöpft zu Boden gegangen waren, attestierten medizinische Gutachter, dass Frauen psychisch und physisch nicht in der Lage seien, an Ausdauerwettbewerben teilzunehmen. Erst 1960 durften die Frauen bei Olympia wieder 800 Meter laufen. Noch 1980 in Moskau waren 1.500 Meter die längste Laufstrecke im Frauenprogramm.
Und das, obwohl Stamatia Rovithi schon im Jahrhundert zuvor bewiesen hatte, dass der weibliche Körper Langstrecken gewachsen war. Es brauchte viele Kämpferinnen, die sich für das Laufrecht der Frauen einsetzten. Die berühmteste unter ihnen ist sicherlich Katherine Switzer, die 1967 als erste Frau mit einem offiziellen Ergebnis den Boston-Marathon finishte. Allerdings war es eine andere Frau, die schon ein Jahr vorher als Erste die 42,195 Kilometer beim ältesten existierenden Marathon der Welt lief: Roberta Louise „Bobbi“ Gibb hatte schon im Februar 1966 versucht, sich für den Boston Marathon anzumelden. Daraufhin erhielt sie ein persönliches Schreiben des Renndirektors Will Cloney. Dieser informierte die Athletin, die zwei Jahre rigoroses Training hinter sich hatte, dass Frauen physiologisch nicht in der Lage seien, Marathonstrecken zu laufen. Stattdessen riet er ihr zu einem Wettkampf über eineinhalb Meilen (ca. 2,4 Kilometer). Das war damals die längste Distanz, zu der Frauen offiziell zugelassen waren.
Statt sich von diesem Brief entmutigen zu lassen, sah sich „Bobbie“ Gibb nun in der Pflicht, es der Welt so richtig zu zeigen. Am Renntag versteckte sie ihren weiblichen Körper unter einem schwarzen Badeanzug und lieh sich ein blaues Kapuzen-Sweatshirt sowie Bermudashorts ihres Bruders. Versteckt in den Büschen in der Nähe des Startbereichs wartete die damals 23-jährige auf den Startschuss. Nachdem etwa die Hälfte der Teilnehmer gestartet waren, wagte sich Bobbi schließlich auch auf die Strecke und kam nach 3:21:40 Stunden im Ziel an.

1967 in Boston: Nach Roberta Louise Gibb finisht Katherine Switzer den Boston-Marathon
Währenddessen träumte eine weitere Frau vom Boston-Marathon. Katherine Switzer (unser Foto zeigt sie am Start des New York-Marathons 1975, als Marathon für Frauen nicht mehr verboten war) trainierte mit ihren Kommilitonen im Leichtathletik-Team der Uni, da es keinen eigenen Frauenverein gab. Vom gemeinsamen Training und ihrem Trainers Arnie Briggs ermutigt entschloss sie sich, in Boston zu starten. Dennoch musste sie es clever anstellen. Zusammen mit ihrem Freund Tom Miller meldete sie sich mit dem Kürzel „K. V. Switzer“ an. So schöpfte niemand im Vorfeld des Wettkampfes Verdacht. Sie erhielt die Startnummer 261.
Am Renntag, den 19. April 1967 flog das Geschlecht der Athletin auf. Renndirektor Jock Semple persönlich versuchte, Switzer die Startnummer während des Rennens zu entreißen. Die darauffolgende Rangelei entbrannte direkt vor einem Pressebus, und die entstanden Bilder gingen um die Welt. Durch das Eigreifen ihres Freundes Miller, der Semple zur Seite stieß, konnte Switzer als erste offiziell gemeldete Frau das Rennen nach vier Stunden und 20 Minuten beenden. 50 Jahre nach ihrem ersten Marathon ging sie im Jahr 2017 als 70-Jährige erneut beim Boston Marathon an den Start, ihre Startnummer war wie damals die 261.

1973 in Waldniel: Dr. van Aaken initiiert ersten reinen Frauenmarathon der Welt
Die Bilder von ihr gingen um die Welt und erreichte auch den kleinen Ort Waldniel am Niederrhein, der zwischen Mönchengladbach und der niederländischen Grenze liegt. Dort lebte der deutsche Sportarzt Ernst van Aaken, der damals schon als größter Fürsprecher des Laufens für Frauen in Deutschland galt. In der Szene hatte er jede Menge Titel: „Prophet des Dauerlaufs“, „Laufdoktor“ oder „Jogging-Papst“ sind einige davon. Aber jeder Name stand für seine Philosophie: Jede und jeder kann und sollte Laufen.
Erschüttert durch die Bilder vom Boston-Marathon 1967 ließ Van Aaken noch im selben Jahr zwei Frauen beim Waldnieler Marathon mitlaufen. Obwohl dies die offiziellen Regeln nicht erlaubten. Eine von denen war Anni Pede, die nach 3:07:26 Stunden im Ziel war. Damals die schnellste je von einer Frau gelaufen Marathonzeit weltweit.
Doch das reichte dem Begründer des Alterssports in der Leichtathletik noch lange nicht. Als Anfang der 70er-Jahre das Marathonverbot für Frauen bröckelte, schickte er am 28. Oktober 1973 um 12 Uhr 31 Frauen in den ersten reinen Frauenmarathon der Welt und sorgte mit seiner These, Frauen seien von Natur aus ausdauernder als Männer ordentlich für Trubel. Mit der Hilfe von Kathrine Switzer, organisierte Van Aaken sechs Jahre später ein Marathon-Großereignis in seinem Heimatörtchen. Frauen aus 23 Nationen gingen an den Start.
1977 lief die Deutsche Christa Vahlensieck dann beim Berlin-Marathon, der damals noch im Grunewald und nicht in der City stattfand, mit 2:34:47,5 Stunden eine neue Weltbestzeit, die ein Jahr später von Grete Waitz beim New York City Marathon unterboten wurde.

1984 in Los Angeles: Mit dem Olympiasieg von Joan Benoit gelingt der große Durchbruch
Der große Durchbruch für den Frauenlaufsport kam dann 1984: In Los Angeles wurde die Amerikanerin Joan Benoit als erste Frau eine Olympionikin im Marathon. Der Schritt über die Ziellinie war sowohl ein großer Schritt für die 1,57 Meter große Athletin als auch für alle Läuferinnen vor und nach ihr. Denn der 5. August 1984 hatte die Laufszene für immer verändert. „Mir wurde bewusst, dass ich, wenn ich gewinnen sollte, die erste Siegerin des ersten olympischen Marathons der Frauen sein würde. Ich wusste, dass das viel Verantwortung mit sich bringen würde“, sagte Joan Benoit damals. Benoit gründete nach ihrem Rücktritt aus dem Leistungssport eine Klinik, wurde Trainerin für Langstreckenläuferinnen und schrieb mehrere Bücher. Den Spaß an den 42,195 Kilometern und am Laufen verlor sie nie.
Natürlich spielten noch viel mehr mutige Frauen und Männer eine Rolle in der Emanzipation des Laufsports. Athletinnen wie Paula Radcliffe, Brigid Kosgei, Tigst Assefa haben über die letzten Jahrzehnte bewiesen, dass Frauen in der Königsdisziplin Marathon großartiges leisten können. Zuletzt pulverisierte Kenianerin Ruth Chepngetich mit einer Zeit von 2:09:56 alle vorangegangenen Weltrekorde der Frauen und knackte zum ersten Mal die Marke von 2:10 Stunden.
Mit diesen starken, schnellen und ausdauernden Frauen als Vorbilder groß werden zu dürfen ist im Jahr 2025 ein junges Privileg, denn noch unsere Großmütter und Mütter haben dafür gekämpft. Jede Frau, die jemals ihre Schuhe schnürte und über das hinauswuchs, was ihr zugetraut wurde, hat dazu beigetragen, dass es die Frauenlaufszene in ihrer heutigen Form gibt.
Und dennoch laufen Frauen und Männer noch immer nicht auf Augenhöhe. An denselben Events teilzunehmen ist nur der sichtbare Gipfel des Eisbergs, der Frauen weiterhin den Erfolg im Laufsport erschwert. Dafür gibt es viele Gründe. Frauen fühlen sich beim Laufen in vielen Ländern unsicher, denn die Fälle von Gewalt oder Übergriffen an Läuferinnen häufen sich. Außerdem fällt es ihnen oft schwerer, Sport in ihren Alltag zu integrieren, da sie sich in vielen Haushalten um mehr kümmern.
Auch fehlendes Wissen rund um die Funktionen und Besonderheiten des weiblichen Körpers stellen bis heute ein Hindernis da. Und dann ist da noch das Mindset, denn junge Frauen werden oft weniger als Jungs dazu ermutigt, sich im sportlichen Wettkampf zu messen. Frauen gehen oft zum Abschalten oder Abnehmen laufen, während bei Männern das Austesten der eigenen Grenzen eine viel größere Rolle spielt. Diese Gründe sind gleichwertig und doch sollten wir unseren Nachwuchs-Athletinnen vorleben, dass nicht das Geschlecht ihre Grenzen zu definieren hat. Ein langer Weg liegt noch vor dem Frauenlaufsport. Der Weg zur Emanzipation ist kein Sprint, sondern eher ein Staffel-Marathon. Also lasst uns den Stab weitergeben, bis das Ziel erreicht ist.