Eilat Desert Marathon
Lauf zum eigenen Ich in der israelischen Wüste
In der israelischen Negev-Wüste gibt es kaum mehr als Steine, Sand, Geröll und ewige Weite. Trotzdem hat laufen.de-Autor Tom Rottenberg dort mehr gefunden als bei einem City-Marathon: sich selbst.
„Was ist denn da schiefgelaufen?“ Der Fragesteller, der sich da via Strava meldete, wirkte ehrlich besorgt. Kein Wunder: Meine Zeit von 4:50 Stunden beim Eilat Desert-Marathon in Israel ist schließlich deutlich länger, als ich normalerweise für einen Marathon brauche.
Nicht, dass ich ein schneller oder gar Treppchen-Platz-Läufer wäre. Mitnichten. Aber fast fünf Stunden sind eben doch gut eine Stunde mehr, als ich normalerweise für die Langdistanz brauche. Nur: Da war nichts schiefgelaufen. Ganz im Gegenteil. Dieser Lauf durch die Wüste war ein Traum. Und nahezu perfekt. Natürlich hätte ich auf das Tête-à-Tête mit dem „Mann mit dem Hammer“ zwischen Kilometer 32 und 36 verzichten können.
Aber dass der manchmal und dann immer plötzlich auftaucht, gehört beim Marathonlaufen dazu. Und dass man ihn erst kommen sieht, wenn der Hammer bereits herabsaust, auch – obwohl doch just auf diesem Streckenteil in Israel der Blick kilometerweit ins Leere ging. In alle Himmelsrichtungen: Die frühen Dreißiger des Eilat Desert-Marathons führen über eine endlose, weite Hochebene. Ganz weit weg, am Horizont, glitzert etwas, das entweder eine Sinnestäuschung oder aber das Rote Meer ist. Rechts, Richtung Osten, aber ganz weit weg, verläuft ein Bergkamm.
Doch zwischen dem und hier ist nichts: Grau und staubig brütet der Negev, die Wüste im Süden Israels, unter der fahlen Sonne. Und obwohl schon Ende November ist, prügelt sie doch brutal herunter. Fast wünscht man sich, dass der Wind, der einem soeben noch Staub in Augen und Lungen gedrückt hat, wieder zu blasen beginnen möge. Die Einsamkeit der Wüste ist ein Ort für elementare philosophische Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und warum, in Dreiteufelsnamen, bin ich überhaupt hier?
Jetzt gerade klingt das aber weniger philosophisch als verzweifelt. Wegen dem Mann mit dem Hammer. Doch da ist noch eine Frage – und die kann keiner seiner Hammerschläge aus meinem Kopf bringen: Warum bin ich trotzdem so glücklich wie kaum jemals zuvor? Hier, am Ende meiner Kräfte, jenseits Willens – und tatsächlich „in the middle of nowhere“?
Denn auch wenn weit weg, wo (hoffentlich) das Meer glitzert, Eilat liegt, diese israelische Mischung aus Las Vegas, Ballermann und Duty-Free-Shop, ist das hier Wüste: Sie nimmt 60 Prozent der Fläche Israels ein. Hier lebt, abgesehen von ein paar Beduinen und einer Handvoll Spinner, niemand. Hier will niemand leben, denn hier kann man nicht leben: Das ist das Wesen einer Wüste.
30 Grad im Schatten – aber es gibt keinen Schatten
Trotzdem sind hier gerade Tausende unterwegs. 1500 Halbmarathonläuferinnen und -läufer. 500 auf der Volldistanz. Noch einmal 1000 auf einem staubigen Zehner. Gestartet sind die Langstrecken schon vor Sonnenaufgang – da waren es auch schon 18 Grad. Jetzt, vier Stunden später, steht die Sonne noch nicht im Zenit – es sind aber fast 30 Grad. Im Schatten. In der Wüste gibt es aber keinen Schatten. Daheim, in Deutschland, in Österreich, in Europa, schneit es in manchen Regionen.
Doch die Flucht vor dem Winter ist es nicht, was die 40 Deutschen, 20 Polen, und je 15 Ungarn, Briten und US-Amerikaner und ein paar „Sonstige“ hierhergebracht hat. Auch nicht, dass man nach dem Beherzigen ultrastrikter Einreiseregeln und Überstehen der dazugehörenden -kontrollen in Israel sogar in Pandemiezeiten ein beinahe „normales“ Leben führen kann. Und eben in die Wüste laufen geht. Obwohl sich da auch Israelis an den Kopf greifen, geht es genau darum. Um das Nichts. Die Wüste.
Dort, wo Nichts ist, sieht man mehr
„Die Wüste ist etwas Besonderes. Sie macht etwas mit dir“, weiß Ofer Padan. Ofer Padan ist in Israel „Mr. Marathon“ – obwohl er selbst noch nie mehr als einen Halben gelaufen ist. Padan ist für fast alle großen Laufevents des Landes verantwortlich: Für den Jerusalem-Marathon, für den „Bible Marathon“, für den Tiberias-Marathon – und eben für den im Negev, für den „Eilat Desert Marathon“.
Im November 2021 fand der zum mittlerweile zehnten Mal statt – und auch für den erfahrenen Veranstalter ist der Lauf durch losen Schotter, durch tiefen Sand und über 600 Höhenmeter mehr als einer von vielen: Dort, wo Nichts ist, sieht man mehr. Anders – und anderes. Da geht es gar nicht so sehr um hochdramatische Fels- und Gesteinsformationen, um Schluchten und Canyons, nicht um sandgeformte Hügel, schroffe Felsen, ferne Berge und weite Ebenen. Nicht um Steinböcke, Wüsten-Antilopen und Greifvögel, die man gelegentlich sieht oder die „Unsichtbaren“, von denen man weiß, dass sie den Menschen ausweichen: Wölfe, Schakale, angeblich sogar ein paar Groß-Raubkatzen. Und auch nicht um einzelne pittoreske Bäume oder dürre Büsche – oder tausende Jahre voll Geschichte und ihren Geschichten: Die Kreuzfahrer. Moses und die Israeliten. Propheten und Religionsgründer.
Handelskarawanen und Armeen aller Epochen – sie alle waren hier. Zogen durch. Hinterließen Spuren. Und legten stets Zeugnis jener Spuren ab, die die Wüste hinterlässt. Weil Wüste, wie Ofer sagt, „etwas mit dir macht“: In ihrer Leere und Weite führt noch der kürzeste Weg zum Ich. Ob man sich da wirklich findet? Vielleicht nicht jeder. Aber etwas entdeckt jeder, findet jede. In sich, über sich.
Die Wüste macht etwas mit einem
Wer Marathon, wer Langstrecke läuft weiß, dass Laufen – auch – Meditation sein kann. Dass die Ein- und Gleichförmigkeit von Schritten und Atem, die Fokussierung auf Weg und Strecke, die Bündelung von Kräften und Wollen, Gedanken und Gefühle auslösen, die man im Alltag oft nicht hat. Oder nicht zulässt. In der Wüste entkommt man alldem dann noch weniger: Es ist kein Zufall, dass es Propheten, Seher, Heilige, Suchende und Spinner oft in die Einsamkeit zieht. In die Wüste.
Das gilt auch für Läufer. Und natürlich Läuferinnen. So nah wie in der Wüste – ist man sich selbst beim Laufen anderswo kaum. „Die Wüste macht etwas mit dir,“ sagt Ofer – und weiß, dass das nur die ganz verstehen, die schon hier waren. Die kommen meist auch wieder – nicht nur aus dem eigenen Land: Nils Krekenbaum etwa, der Betreiber der Laufreiseplattform laufreisen.de. Krekenbaum ist schon auf der ganzen Welt gelaufen. Er könnte jederzeit überall rennen. Doch nach Eilat kam er nach seinem Wüsten-Halbmarathondebut von 2019 nicht nur zurück, weil er eine Gruppe rund um den spendensammelnden „Marathonpater Tobias“ betreute. „In der Wüste zu laufen ist etwas Besonderes“, sagt auch er.
Marathon-Macher träumt vom Laufen über Grenzen
Dass er das 2020 gar nicht und 2021 dann nur mit einer vergleichsweise kleinen Gruppe erleben konnte, ändert daran nichts. Von rund 20 Anfragen blieben laufreisen.de schlussendlich nur fünf Tatsächlich-Reisende. „Die Unsicherheit der letzten beiden Jahre schreckt immer noch ab – umso schöner ist es, wenn das Reisen zu Läufen wieder möglich ist,“ sagt Krekenbaum.
Dass Israel die Anfang November 2021 für Besucher erstmals wieder geöffneten Grenzen nach dem Wüstenmarathon Anfang Dezember wieder dichtmachte, ist dazu kein Widerspruch. Was auf den ersten Blick verunsichert, ist tatsächlich etwas Positives: Just diese rigide Corona-Politik an den Grenzen aber auch im Land machte Israel damals zu einem der „covidsichersten“-Länder weltweit.
Auch deshalb hofft Ofer Padan bald wieder an „alte Zeiten“ anschließen zu können: Vor Corona liefen mehr als doppelt so viele Läuferinnen und Läufer durch die Wüste. Ofer war stolz darauf, Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus fast 100 Nationen nach Eilat zu holen – und friedlich gemeinsam laufen zu lassen.
Wobei er dazu etwas anmerken will. „Gegenüber von Eilat liegt Jordanien. Gleich daneben Saudi-Arabien. Wenige Kilometer von hier ist Ägypten: Ich kann mich nicht damit abfinden, dass wir mit Menschen aus der ganzen Welt gemeinsam laufen – nur nicht mit unseren Nachbarn. Mein Traum ist es, dass wir hier gemeinsam über Grenzen laufen, die keine Bedeutung mehr haben.“
Schotter, Sand und Felsen machen den Lauf zu einer Herausforderung
Natürlich gibt es härtere, anstrengendere, archaischere Wüstenläufe. Ultras zumeist. Aber auch erfahrene Ultraläufer attestieren dem Eilat-Desert-Marathon, dass er „the marathon that feels like an ultra“ sei. Denn daran, dass man im lockeren Schotter bergauf und bergab und im Sand der Ebene bei jedem Schritt darauf achten muss, ob der Boden tief oder bretthart wird, dass man kaum weiß, ob er unter dem Schuh wegrutscht oder sich unter dem Staub ein Felsen verbirgt, ändern auch perfekte Markierungen, ein lückenloses Steward-Netz und Verpflegungsstationen alle 2,5 Kilometer nichts.
Und dem Wind und der Sonne unterwegs ist die touristische High-End-Turbo-Tourismus-Infrastruktur Eilats auch egal: Im Luxushotel wird die Miss Universe gewählt, Schönheitschirurgen halten Kongresse ab, in den Zollfrei-Malls gibt es Eislaufplätze – und in manchen All-Inclusive-Clubs steppt ein Massen-Bär, dem man am Ballermann oder an der türkischen Riviera längst zu entkommen trachtet.
Doch hier gibt es auch wirklich Schönes: Unterwasserobservatorien, intakte Tauchparadiese oder die Möglichkeit, mit freilebenden Delfinen zu schwimmen – und wenn man an den Dattelfarmen vorbei nur einen Kilometer ins Leere läuft, ist man an einem Ort, an dem man sich selbst begegnet: In der Wüste – dem vermutlich schönsten Ort der Welt.
Der Eilat Desert-Marathon ...
... fand 2021 bereits zum zehnten Mal statt. Er ist der einzige Lauf in Israel, der in der Wüste beginnt und am Ufer des Roten Meeres endet. Die Strecke führt durch die Wüstenberge um die Stadt Eilat, die am Golf von Akaba liegt und als israelische Mischung aus Las Vegas, Ballermann und Duty-Free-Shop gilt. Die wunderschönen Sandfarben und atemberaubende Ausblicke machen den Lauf zu einer unvergesslichen Erfahrung. Der Eilat Desert Marathon findet über drei Tage statt, die voller sportlicher Aktivitäten, Gastfreundschaft und feierlicher Stimmung bei der großen After-Marathon-Party sind. Das Event wird jedes Jahr Ende November ausgetragen.