Laufschuh-Technologie - Was Carbonplatten im Schuh dem Freizeitläufer bringen

Laufschuh-Technologie - Was Carbonplatten im Schuh dem Freizeitläufer bringen

| Text: Redaktion laufen.de | Fotos: Hersteller

Immer mehr Hersteller bieten schnelle Schuhe mit Carbon an. Doch was macht das leichte Material aus Kohlenstoff mit unseren Füßen, welche Schuhe gibt es schon auf dem Markt und was bringen sie eigentlich dem Hobbyläufer?

Steife Carbonplatten, die in der Mittelsohle verbaut werden, sind der „heiße Stoff“ der Laufschuhindustrie. Die Weltrekorde im Marathon der Männer und Frauen wurden mit solchen Schuhen verbessert. Eliud Kipchoge lief in einem High-Tech-Modell seines Ausrüsters die 42,195 Kilometer sogar schneller als zwei Stunden. Immer mehr Hersteller bieten schnelle Schuhe mit Carbon an. Doch was macht das leichte Material aus Kohlenstoff mit unseren Füßen, welche Schuhe gibt es schon auf dem Markt und was bringen sie eigentlich dem Hobbyläufer?

Der Weltrekord-Schuh

Marken wie Asics, New Balance, Brooks, Mizuno, Saucony oder Hoka One One machen es ähnlich. Neue Firmen wie On holen auf, weil sie kreativ sind und die digitale Welt verstanden haben. Und mit True Motion sorgt ein junges Unternehmen aus Deutschland mit der neuen Technologie „U-Tech“, bei dem die gefährlichen Drehkräfte zentriert und damit reduziert werden, für Aufsehen in der Branche. Der Wettstreit um unsere Füße ist so stark entbrannt wie nie zuvor.

Dass es kein Nachteil ist, viel Geld investieren zu können, hat Nike mit einer in dieser Form im Laufsport nie gezeigten Kampagne demonstriert. Für den schnellsten Marathonläufer der Welt wurden Laufschuhe entwickelt, die ihn noch schneller machen sollen. Im italienischen Monza verpasste Eliud Kipchoge damit 2017 noch ganz knapp die magische Zwei-Stunden-Marke im Marathon, in Wien rannte er vergangenen Herbst unter idealen, aber irregulären Bedingungen die 42,195 Kilometer in 1:59:40,2 Stunden. Zwischendurch steigerte er 2018 in Berlin den regulären Weltrekord auf 2:01:39 Stunden. Immer trug er Schuhe, in deren Zwischensohlen Carbonplatten verbaut waren.

Auch die meisten anderen Top-Leistungen im Marathon – wie der Frauen-Weltrekord von Brigid Kosgei 2019 in Chicago – wurden mit Nikes Vaporfly-Modellen erzielt. Der Hype um diese Schuhe ist weltweit riesig. Sogar der Leichtathletik-Weltverband World Athletics beschäftigte sich damit, ob die Schuhe regulär sind –  oder ob sie den Athleten so große Vorteile bringen, dass sie verboten gehören. Der Verband entschied: Die Schuhe sind regulär, solange ihre Sohle nicht dicker als 40 Millimeter ist. Und es darf maximal eine Carbonplatte verbaut sein, die in mehrere Stücke aufgeteilt sein kann, die aber nicht übereinander liegen oder sich überlappen dürfen. Regulär sind also die Nike-Modelle aus der Vaporfly-Serie, in denen Eliud Kipchoge und Brigid Kosgei ihre Marathon-Weltrekorde liefen. Nicht regelkonform war dagegen jenes Modell, das Kipchoge bei seinem ohnehin nicht regulären Rennen in Wien nutzte. Der von Nike wiederum aus diesem Prototypen entwickelte Alphafly, der in diesem Frühjahr auf den Markt kommt, entspricht den Regeln.

Messbare Vorteile bei hohem Tempo

Aber was haben wir Hobbyläufer von all dem High-Tech? Was bringt eine Carbonplatte im Schuh für den Läufer, der die Zwei-Stunden-Marke im Halbmarathon knacken will? „Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand muss man wohl sagen: nichts. Außer eine höhere Belastung für die Achillessehne“, sagt Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann, der viele Jahre das Institut für Orthopädie und Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule in Köln geleitet hat. Er selbst hat unzählige Studien – auch für die großen Hersteller wie Nike, Asics oder Brooks – geleitet. Und ebenso viele unabhängige Untersuchungen mit seinem Team durchgeführt.

Er ist einer der Gründer des jungen deutschen Schuhherstellers True Motion. Nur wenige kennen und verstehen die aktuellen Studien zu unterschiedlichen Laufschuh-Technologien ähnlich gut wie Brüggemann. „Carbonplatten versteifen das Zehengrundgelenk. Das ist aus energetischer Sicht nachvollziehbar, weil ein Läufer dadurch weniger Energie verliert“, erklärt der Biomechaniker. Allerdings lägen die messbaren Ergebnisse im homöopathischen Bereich. „Wir messen bei Läufern bei moderater Geschwindigkeit, also weniger als 11 Kilometer pro Stunden eine Ersparnis von weniger als 2 Joule pro Schritt. Bei höheren Geschwindigkeiten von mehr als 15 Kilometern pro Stunde sind es knapp 7 Joule pro Schritt. Wenn man weiß, dass ein Laufschritt rund 350 Joule an Energie für den mechanischen Vortrieb kostet, ist das zumindest bei geringen Laufgeschwindigkeiten nicht allzu viel“, so der Wissenschaftler.

Bei sehr hohem Tempo aber, vor allem beim Sprint, ist der Vorteil deutlich höher. Hier wird von einer Geschwindigkeitsverbesserung von fast 1,5% berichtet, was einer Zeitverbesserung über die 100 Meter von 0,15 Sekunden entspricht. Allerdings haben die Studien deutlich gezeigt, dass die besten Ergebnisse mit individuell sehr unterschiedlichen Steifigkeiten der Carbonplatten erzielt wurden. Eine perfekte Lösung für alle Zielgruppen scheint es nicht zu geben. Für schnelle, kürzere Tempoläufe kann ein solcher Schuh mit Carbonplatte also durchaus geeignet sein und messbare Vorteile bringen.

Belastung auf Achillessehne steigt

Prof. Brüggemann hat eine Sorge: „Mit der Versteifung des Zehengrundgelenkes durch die Carbonplatte wird der Kraftangriffspunkt nach vorn verschoben und der Hebel zum Sprunggelenk vergrößert sich. Damit erhöht sich die Belastung auf Achillessehne und Wadenmuskulatur beim Abstoß um 15 Prozent und mehr.“

Brüggemann bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel: „Die meisten Carbon-Modelle setzen auf eine Rocker-Technologie, also einen vorgebogenen Leisten, der das Abrollen erleichtert. Ohne einen solchen Rocker wären die Schuhe über längere Distanzen kaum laufbar. „Die Rocker-Technologie, eigentlich eine Abrollhilfe für einen nicht intakten Fuß, hebt allerdings den Vorteil, den die Carbonplatte bietet, zum größten Teil wieder auf. Der Kraftangriffspunkt wird durch die Sohlenwölbung deutlich nach hinten verschoben und der Hebel zum Sprunggelenk reduziert“, erklärt der Wissenschaftler. Die Rocker-Technologie entlaste die Achillessehne je nach Ausprägung der Wölbung um mehr als 10 Prozent. Das sei in mehreren Studien nachgewiesen, so Brüggemann.

Seine größte Sorge ist, dass der Schuh von Freizeitläufern genutzt werden könnte, die ihn falsch einsetzen. „Ich befürchte, dass im Bereich der Achillessehne, der Wadenmuskulatur und der Plantarsehne vermehrt Probleme entstehen werden.“ Hier sei auch der Fachhandel gefragt. Laufschuhe mit Carbonelementen erfordern eine hohe Beratungskompetenz. „Laufsportspezialisten sind in der Regel gut geschult, deshalb ist es auch ein vernünftiger Weg, dass die meisten Modelle zunächst nur bei ausgesuchten Fachhändlern vertrieben werden“, sagt Brüggemann.

Die Kunst bleibt es, aus der Vielzahl von Schuh-Modellen und -Technologien für den einzelnen Kunden und seinen individuellen Bedürfnissen den richtigen Laufschuh zu empfehlen. Das ist heute deutlich schwieriger als noch vor 15 Jahren. 2006 war es ebenfalls der amerikanische Hersteller Nike, der mit dem Nike Free die Ära der „Barfuß-Laufschuhe“ einläutete. „Die Idee dahinter war gut und sinnvoll, aber der Schuh wurde von den meisten Läufern nicht für den Zweck eingesetzt, für den er entwickelt worden war“, erinnert sich Brüggemann nur allzugut. Schließlich war er an der Entwicklung damals beteiligt.

Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann

Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann ist ein deutscher Sportwissenschaftler. Brüggemann war Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS Köln). 2018 hat er zusammen mit zwei Mitgründern die Laufschuhmarke True Motion gegründet.

Vernunft und Aufklärung gefragt

Der Nike Free war ein Trainingsgerät für die Füße – kein Laufschuh für viele Laufkilometer. Die neuen Laufschuhe mit Carbonplatte sind Trainingsbegleiter für ganz  schnelle Laufeinheiten – keine Schuhe für lange Laufbelastungen. Wenn der Markt das versteht, haben die Schuhe eine Berechtigung. Falls aber jeder Freizeitläufer glaubt, er könne in den High-Tech-Schuhen seine Bestzeiten über längere Strecken pulverisieren, dann werden die Schuhe in ein paar Jahren wieder weitgehend vom Markt verschwinden. Vernunft ist gefragt. Und gute Aufklärung.