Spektakuläres Rennen
Les Foulées du Gois – der Kampf gegen die Flut

| Text: Stefan Schlett | Fotos: Nathalie Cossoul, Charles Piveteau, Roger Morisseau, Stefan Schlett

Les Foulées du Gois ist ein besonderes Lauf-Erlebnis: Gestartet wird bei Flut auf einer Insel, um dann so schnell wie möglich das Festland zu erreichen, bevor die Straße komplett unter Wasser steht.

Der Wattranger steht mitten im Meer und beobachtet aufmerksam den Gois. Die Passage du Gois ist eine sogenannte Route Submersible – frei ins Deutsche übersetzt „Unterwasserstraße“. Eine vier Kilometer lange straßenbauliche Kuriosität, die die französische Insel Noirmoutier in der Vendée, im Westen Frankreichs, mit Festlandfrankreich verbindet, das hier simpel „Le Continent“, also der Kontinent, genannt wird.

Als Teil der Départementstraße D 948 ist sie eine nur bei Ebbe freiliegende Straße, die jährlich von hunderttausenden Auto- und Radfahrern bzw. -fahrerinnen sowie Fußgängerinnen und Fußgängern genutzt wird. Bei Hochwasser ist die Fahrbahn bis zu vier Meter hoch vollständig überflutet.

Die Passage du Gois

Von Beauvoir-sur-Mer auf dem Festland ist die 4150 Meter lange Passage du Gois zweimal täglich bei Ebbe für etwa drei Stunden passierbar ist. Zwölf Kilometer südwestlich, bei La Barre-de-Monts, ist das Eiland über die 600 Meter lange Brücke Pont de Noirmoutier jederzeit erreichbar.

Heute ist der Gois gesperrt, denn einmal im Jahr wird die Passage zur Wettkampfarena. Sobald die Fahrbahn von der ersten Welle der anrückenden Flut komplett überspült wird, sendet der Ranger per Funk ein Signal an den Startchef auf der Insel, wo schon 36 eingeladene Eliteathleten und -athletinnen nervös mit den Hufen scharren. Sie sind die Gladiatoren im Course contre la mer – dem Rennen gegen das Meer –, einem auf der Welt einmaligen Spektakel, das auf der Kante zwischen den Elementen stattfindet.

Zuerst sprinten die 16 Frauen im Feld los, die Männer folgen wenige Sekunden später. Verfolgt von Kameradrohnen, die im Tiefflug über das Watt rauschen, um Livebilder zu liefern. Sie versuchen, der herankommenden Flut davonzulaufen und so schnell wie möglich ans Festland zu kommen. Überwacht von Journalistinnen und Journalisten, Sanitäterinnen und Sanitätern, Fotografinnen und Fotografen. Auch von Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern, Kameraleuten und Rettungstaucherinnen und -tauchern in Fischerkähnen, die neben der Strecke schippern.

Kampf gegen die Flut

Erwartet von mehreren Tausend Zuschauenden, die in Feierlaune auf der anderen Seite, in „Le Continent“, ihre Heldinnen und Helden empfangen. Den Kampf gegen die Flut kann zwar keiner gewinnen, aber am Ende werden alle zu Siegerinnen und Siegern.

In der Baie de Bourgneuf, einer Bucht zwischen der Ile de Noirmoutier und Beauvoir-sur-Mer auf dem Festland, schichteten im Laufe der Jahrtausende zwei Gezeitenströme Sand und Gestein zu einem natürlichen Damm auf, der Jahrhundertelang bei Ebbe als Transportweg zur Insel genutzt wurde. Im 18. Jahrhundert wurden erstmals Fundamente gelegt und der Gois mit Pflastersteinen befestigt, um die Bewegungen der Sandbänke zu verhindern. Dies bildete die Grundlage für den späteren Fahrbahndamm.

Bei Ebbe wird nach Meeresfrüchten gesucht

Heute ist der Damm mit Platten belegt und teilweise asphaltiert. Alle 200 Meter befinden sich Rettungsinseln, drei davon mit einer Art Krähennest, wo bis zu 20 Personen auf Rettung oder die nächste Ebbe warten können. Sobald der Meeresboden freiliegt, gehen hunderte Menschen in den Schlick, um Coquillage zu sammeln: Muscheln, Krebse, Schnecken und andere Meeresfrüchte.

Viele fahren mit dem Auto raus, dass sie neben dem Gois parken und stiefeln kilometerweit ins Watt, bewaffnet mit Eimern, Harken, Schaufeln. So mancher Jäger der Meeresfrüchte endet dann schon mal in einer der Rettungsdalben, wenn er vor lauter Buddelei im Schlick die Zeit vergessen hat.

Die Ile de Noirmoutier

Die 49 Quadratkilometer große Insel Noirmoutier ist an der schmalsten Stelle nur ein paar hundert Meter breit, ein Großteil ihrer Fläche liegt unter dem Meeresspiegel, der Ozean durchtränkt die Sümpfe und Polder. Tourismus bildet mit rund 120.000 Gästen pro Jahr die wirtschaftliche Grundlage für die knapp 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Austern von Noirmoutier sind berühmt wegen ihrer Feinheit und dem jodhaltigen Geschmack. An Land liefern die Salzgärten das berühmte Salz von Noirmoutier, das auch als „das weiße Gold der Sümpfe“ bezeichnet wird. Der große Star der Insel ist die Bonotte: Sie gilt als die teuerste Kartoffel der Welt, wird nur auf der Insel Anfang Mai rund zehn Tage lang geerntet und ist wegen ihrer Empfindlichkeit nur zum sofortigen Verzehr geeignet.

Wiederbelebung des Gois nach Brückenbau

Doch einmal im Jahr haben Muscheln und Krabben Schonzeit. Dann findet immer an einem Samstag im Mai oder Juni (abhängig von den Gezeiten) der Les Foulées du Gois statt, dieses Jahr am 29. Juni bereits zum 36. Mal.

Sein Erfinder ist Joseph Cesbron, den alle nur Jo nennen. Er wollte mit dem Rennen eine Wiederbelebung der Passage von Gois bewirken. Denn 1971 wurde die Pont de Noirmoutier gebaut, eine Brückenverbindung zum Festland. Die Zahl der Fahrten über die Passage, die bis 1970 fast eine Million erreicht hatte, nahm daraufhin rapide ab.

Premiere 1987 ist ein Volltreffer

Jo organisierte einen Testlauf und ließ darüber einen professionell gestalteten Film produzieren. Zuerst wollte er die Presse überzeugen und ging nach Paris ins Studio des Fernsehsenders TF1, um mit Erfolg seinen Film „Das Rennen gegen das Meer“ zu präsentieren. Danach widmete er sich dem „Kampf“ mit den Behörden, einem Sicherheitskonzept und der Suche nach freiwilligen Helfern.

Voilà – 1987 wurde die Premiere aus dem Watt gestampft. Der amphibische Circus Maximus war ein Volltreffer und schon bald konnte er sich vor Anfragen aus aller Welt kaum noch retten. Heute ist der Foulées du Gois hinter der zwei Jahre später gegründeten Vendée Globe, einer legendären Regatta, bei der die weltbesten Einhandsegler nonstop die Welt umrunden, die zweite Veranstaltung mit internationalem Bekanntheitsgrad in der Vendée.

Eine der beliebtesten Tourismus-Regionen in Frankreich

Die alle vier Jahre ausgetragene Vendée Globe gilt als das schwerste Rennen der Welt und ist in Deutschland ein Begriff, seit der Oldenburger Profisegler Boris Herrmann bei der letzten Ausgabe 2020/2021 nicht nur als erster Deutscher teilnahm, sondern diese auch beinahe noch gewonnen hätte.

Das 400 Kilometer südwestlich von Paris gelegene Département Vendée, das vor dreieinhalb Jahrzehnten noch völlig vergessen vor sich hinschlummerte, ist mit seiner 250 Kilometer langen Atlantikküste und 140 Kilometern Sandstränden heute eine der beliebtesten Tourismusregionen in Frankreich.

Rennen für alle Alters- und Leistungsklassen

Der Gois, zu Deutsch Furt, wurde auch schon bald von den Organisatoren der Tour de France entdeckt. In Erinnerung blieb der Massensturz von 1999 auf der nassen und rutschigen Passage. 2011 startete die erste Etappe der Tour auf der Passage du Gois. 2018 fand der Start ebenfalls auf der Ile de Noirmoutier statt, jedoch fuhr das Peloton diesmal über die Brücke.

17:52 Uhr – Niedrigwasser. Die Volksläufe sind in vollem Gange. 898 Männer und 894 Frauen laufen in getrennten Startgruppen den Gois vor und zurück, insgesamt acht Kilometer. Zuvor waren schon die Kinder und Jugendlichen mit Strecken über 900 bzw. 2400 Meter dran. Dazwischen noch ein Acht-Kilometer-Rennen für Behinderte, dabei auch ein Dutzend Joëlettes – Einrad-Geländerollstühle –, in denen behinderte Kinder von mehreren Läuferinnen und Läufern transportiert werden, und ein paar Handbiker.

Die Zuschauenden suchen sich die besten Plätze

Auftakt war bereits um 15:15 Uhr das Einladungsrennen, bei dem die lokale Elite mit elf Läuferinnen und 25 Läufern in die ablaufende Flut gejagt wurden. Vier Kilometer im noch knietiefen Wasser bis zur Insel sorgen für die ersten spektakulären Szenen des Tages. Nach dem Wendepunkt ist das Wasser dann schon fast komplett abgelaufen, so dass wieder Speed aufgenommen werden kann und die Siegerzeiten noch immer passable Werte von 28:21 Minuten (erster Mann) und 34:43 Minuten (erste Dame) für das acht Kilometer lange „Wasser-Hindernisrennen“ erreicht werden.

Nach diesen sechs Rennen folgt der Höhepunkt des Tages: der Lauf der Asse. 20 Männer und 16 Frauen machen sich bereit – darunter Champions aus Frankreich, Kenia, Marokko, der Ukraine und Bolivien. Während die Gladiatoren die vier Kilometer zwecks Aufwärmens zur Insel joggen, wo der Start erfolgt, bringen sich die Massen der Zuschauenden in Stellung. Es gilt, einen guten Platz mit Blick auf die Großbildleinwand zu ergattern, auf die per Drohnen die Schlacht aus dem Watt live übertragen wird.

Elite-Frauen sind erst zum vierten Mal am Start

Viele nehmen auf den atrium-förmig angelegten Wellenbrechern Platz. Streckenrekordhalter mit 12:08 Minuten ist seit 1990 der Franzose Dominique Chauvelier. Dabei ist es erst zum vierten Mal, dass beim Elitelauf auch ein Frauenfeld am Start ist. Es war 1994, als eine schnelle Russin zum ersten Mal im Feld der Eliteläufer zugelassen wurde und schon nach der Hälfte der vier Kilometer langen Strecke aufgab – das Wasser war für sie einfach zu hoch.

Nach dem Motto „keine unnötigen Experimente“ ließ die Gleichberechtigung am Gois dann noch ein viertel Jahrhundert auf sich warten. Im Jahre 2019 geschah es dann: Erstmals wurde ein dreiköpfiges Frauenteam vor den Männern ins Wasser geschickt. Drei Minuten später begann die Hetzjagd. Nach der Hälfte waren die Damen ein- und überholt. Nur die Ukrainerin Tetyana Vernihor sprintete scheinbar uneinholbar mit kraftvollem Schritt vorneweg und rettete sich tatsächlich vor allen Männern ins Ziel! „La sensation“!

Frauen bekommen immer weniger Vorsprung

Erstmals in der über drei Jahrzehnte langen Historie des Les Foulées du Gois erreichte eine Frau beim Eliterennen das Ziel – und gleich noch als erste im Zieleinlauf. Mon Dieu! Tetyanas Handicapsieg von 14 Minuten und 30 Sekunden bedeuteten damals den 18. Gesamtplatz im Klassement. Nachdem 2020 und 2021 das Rennen pandemiebedingt ausfiel, gab man im Jahre 2022 den Frauen nur noch zwei Minuten Vorsprung, angeblich wegen einer Springtide.

Es wurde gemunkelt, dass dies auch andere Gründe haben könnte. Wollten da vielleicht ein paar „alte weiße Männer“ verhindern, dass schon wieder eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts zuerst ins Ziel kommt? Aber das Damenfeld bewies, dass es auch mit verschärftem Handicap die Herren der Schöpfung bezwingen kann und brachte diesmal sogar zwei Athletinnen mit fünf und vier Sekunden vor dem Sieger ins Ziel! Auch 2023 schaffte es kein Mann, die schnellste Frau einzuholen.

Die Flut kommt …

20:22 Uhr – zweieinhalb Stunden nach dem Wassertiefststand. Die Flut kommt unaufhörlich – jede halbe Minute lässt sich in Zentimetern messen. Das gesamte Elitefeld ist gestartet, den schnellen Ladys gewährte man dieses Jahr nur noch ein paar Sekunden Vorsprung und sie werden bereits von dem ersten Mann von hinten aufgerollt. Anfangs platscht das Wasser noch bei jedem Schritt, doch schon bald wird es knöchel- und wadentief – der Gois senkt sich ein wenig zur Mitte hin.

Die Szene wirkt bizarr: Wie Jesus scheinen die Athleten über das Wasser zu laufen. Ein halbes Dutzend Drohnen wirbeln über das nasse Schlachtfeld. Im Mittelfeld torkelt eine Gruppe Schwarzafrikaner durch das tiefe Wasser, für einmal sind die schnellen Läufer aus den ostafrikanischen Hochebenen nicht als Favoriten unterwegs. In den Anfangsjahren konnten die Afrikaner mit diesem Rennen sowieso nichts anfangen. Sie hatten Angst vor dem Meer und konnten meistens auch nicht schwimmen. Doch irgendwann hat es auch sie gepackt.

Die Läuferinnen und Läufer werden gefeiert

Am Horizont ein Raunen, Applaus, Jubelschreie. Der Franzose David Menanteau siegt in 12:58 Minuten, Vizemeister im Course contre la mer wird Mohamed Boutmazguine aus Marokko mit 13:12 Minuten und als Dritter erreicht Jonathan Billaud, Sieger der beiden vergangenen Jahre, in 13:28 Minuten das Ziel. Das Eliterennen der Damen ist diesmal in afrikanischer Hand: Die Marokkanerinnen Oumaima Saoud und Fatima Ezzahra El Idriss schnappen sich in 14:43 bzw. 14:52 Minuten die ersten beiden Podiumsplätze, was den 11. und 13. Gesamtrang bedeutet. Auf dem 3. Platz erreicht die Französin Valentine Chapelotte das rettende Ufer in 15:21 Minuten.

Der Wasserkrimi hat seine Siegerinnen und Sieger und in Le Continent ist die Hölle los. Die Zuschauenden feiern ihre Heldinnen und Helden, als hätten sie gerade eben den Atlantik zu Fuß überquert. Einige Fans stehen im Wasser. Heute gibt es keine Verluste, alle kommen an – als finale Siegerin Lucile Mary aus dem Departement Loire-Atlantique in 22:50 Minuten. Gleich darauf ist Siegerehrung und kurz nach 21 Uhr geht ein weiteres episches Spektakel in der Vendée zu Ende.