Europameister Richard Ringer im Interview
„Mit diesem Spurt wollte ich dem Publikum etwas zurückgeben“
Europameister Richard Ringer hat für einen der größten Tage in der deutschen Marathongeschichte gesorgt. Im Interview spricht er über sein Training, seine neuen Ziele und über Teamspirit im Marathon.
Richard Ringer, der Montag war mit deinem EM-Gold, dem Sieg der Frauenmannschaft und dem Silber fürs Männerteam der wohl größte Tag in der deutschen Marathongeschichte, seit Waldemar Cierpinski 1980 zum zweiten Mal für die DDR Olympiasieger geworden ist. Wie ist der Tag für dich nach der Siegerehrung weitergegangen?
Richard Ringer: Ich habe Interviews gegeben und bin dann nachmittags vom ZDF für Fernsehaufnahmen im Golfwagen auf den Olympiaberg gefahren worden. Von dort ging es dann zur Abendveranstaltung ins Stadion, wo ich ein kurzes Wettrennen mit dem Maskottchen machen musste. Gfreidi hat mich dann über zehn Meter bis zum Zielstrich abgezogen. Danach bin ich ins Hotel gefahren und habe um 19:30 Uhr zum ersten Mal seit dem Frühstück um 7:30 Uhr wieder etwas gegessen, das nicht Energie-Gel oder -Riegel war. Die restlichen EM-Wettbewerbe habe ich mir im Hotel am Fernseher angeschaut und nach einem Bier an der Hotelbar dann auch zum ersten Mal die Endphase meines eigenen Rennens.
Wie hat sich das angefühlt?
Richard Ringer: Ich habe da zum ersten Mal realisiert, was für ein Spurt das wirklich war und mir ist klar geworden, warum es meinen Trainer direkt danach emotional umgehauen hat. Ich hatte Gänsehaut beim Anschauen und ein paar Tränen verdrückt.
Du hast eben deinen Trainer erwähnt. Tim Moriau hat schon länger dein Training übernommen, nachdem du dich zuvor eine Zeitlang selbst trainiert hast …
Richard Ringer: ... ja, er wird demnächst Sportdirektor im belgischen Triathlon-Verband und ist ein Coach, der sehr wissenschaftlich vorgeht. Er hat eine tolle Trainingsgruppe aufgebaut, zu der beispielsweise auch Isaac Kimeli gehört, der in Eugene WM-Zehnter über 10.000 Meter geworden ist und über eine Bestzeit von 27:22,70 Minuten verfügt. Wenn ich zum Training in Belgien bin, sind immer einige von denen da. Vergangenen November habe ich drei Wochen lang mit Isaac trainiert. Die Gruppe motiviert mich sehr.
Wie ist diese Zusammenarbeit entstanden?
Richard Ringer: Tim Moriau und ich kennen uns schon seit 2018, aber dann habe ich zunächst begonnen, bei Wolfgang Heinig zu trainieren, was auch gut gepasst hat, wie meine Steigerung auf 2:08:49 Stunden 2021 gezeigt hat. Entscheidend für den nochmaligen Trainerwechsel danach war die starke Gruppe von Tim. Bei Wolfgang Heinig war ich der einzige männliche Athlet in der Gruppe und musste trotz der vielen Trainingslager einiges allein durchziehen. Das war mental einfach zu hart für mich. Tim ist nur ein Jahr älter als ich, coacht aber schon lange und sehr digital. Unsere Zusammenarbeit läuft über eine App, die mit meiner Trainingsuhr synchronisiert ist. In der App hinterlegt Tim meine Pläne und sieht dann genau, wie ich sie umgesetzt habe. Natürlich werden die Pläne immer angepasst an meinen aktuellen Zustand. 2022 war ja längst nicht immer alles gut bei mir: Ich bin dreimal umgeknickt, hatte Magen-Darm und Corona. Aber als Marathonläufer hat man ja immer irgendwelche Baustellen. Und so telefonieren wir auch viel, um das Training und den Plan zu besprechen.
Ist es für die mentale Stärke besser, von einem Trainer unterstützt zu werden, als sich selbst zu trainieren – was du ja auch ein paar Jahre lang gemacht hast?
Richard Ringer: Der Trainer hat einen Plan. Das ist wichtig. Und der Athlet muss an den Plan glauben. Wenn es dann mal im Training nicht so gut gelaufen ist, hat er mich immer wieder daran erinnert, dass es nicht auf den einzelnen Tag im Training ankommt, sondern auf den Tag X, an dem ich performen will. Und das war eben der 15. August 2022. Ich habe mich dieses Jahr an genau drei Tagen perfekt gefühlt. Das war der vergangene Samstag, der Sonntag und der Montag, an dem der EM-Marathon gestartet wurde. Ich war bereit und hatte bei den letzten lockeren Trainingsläufen zum ersten Mal das Gefühl zu fliegen.
Und mit diesem Gefühl bis du dann ins Rennen gegangen.
Richard Ringer: Ja, aber Marathon ist ja immer eine Wundertüte. Du stehst an der Startlinie und weißt nicht, ob du durchkommst. Jeder Marathon ist hart. Bei der EM war es aber leichter, weil wir als Team gestartet sind. Das hat alle total motiviert. Bei mir kam noch hinzu, dass ich 2018 als Jahresschnellster in Berlin ins EM-Rennen über 10.000 Meter gegangen und dann ausgestiegen bin. Das wollte ich wieder gutmachen und die einmalige Chance nutzen, vier Jahre danach wieder bei einer EM im eigenen Land starten zu dürfen. Als Mannschaft wollten wir eine Medaille holen, was drüber hinaus noch dabei herauskommen würde, war erstmal egal.
Amanal hat mir sehr geholfen. Er ist von vorn ans Ende der Gruppe gekommen und hat gefragt: „Richard, geht’s dir gut?“ Und mich dann gepusht. Amanal ist so ein guter Mensch
Richard Ringer über Amanal Petros, der mit seinem vierten Platz viel zum Teamsilber beigetragen hat
Bei Kilometer 25 hattest du im Rennen dann aber schon einmal den Kontakt zur Spitzengruppe etwas verloren …
Richard Ringer: … da hat mir Amanal sehr geholfen. Er ist von vorn ans Ende der Gruppe gekommen und hat gefragt: „Richard, geht’s dir gut?“ Und mich dann gepusht: „Keine Lücken lassen! Wieder ranlaufen!“ Amanal ist so ein guter Mensch, und ich hab‘ gedacht: Mensch konzentrier dich auf dich und gewinn das Ding einfach.
Fünf Kilometer vor dem Ziel bist du noch mal zurückgefallen …
Richard Ringer: … ja und als ich dann bei Kilometer 39 wieder in der Spitzengruppe war, war es genau anders. Er ist direkt weggelaufen und ich habe gedacht: „Gottseidank, er macht sein Ding.“
Am Ende war es dann aber doch dein Ding.
Richard Ringer: Auf der langen Zielgeraden hatte ich solche Schmerzen und habe noch mal mehr draufgehauen. Es tat ja eh schon alles weh.
Wir waren gut vorbereitet. Ich bin mit diesem „Eiskäppi“ gelaufen, in das so ein Netz eingenäht ist, um mit Crushed Ice den Kopf kühlen zu können.
Richard Ringer über die Hitze, die zwar nicht ganz so groß war wie erwartet, aber immer noch eine Herausforderung
Ist deine EM-Vorbereitung optimal verlaufen?
Richard Ringer: Nein, fünf Wochen vor dem EM-Marathon wurde es verletzungsbedingt noch mal kritisch. Da bin ich auch mal eine Woche gar nicht gelaufen, habe aber 22 Stunden Ausdauer trainiert. Auf dem Rad, beim Spinning, auf dem Crosstrainer, beim Schwimmen und Aquajoggen. Das ist vom zeitlichen Umfang her mehr, als wenn man 200 Kilometer in der Woche läuft. Dafür braucht man „nur“ 14 Stunden. Die letzten drei Wochen vor München hat es dann aber wieder funktioniert. Ich konnte noch einmal viele harte Einheiten machen, die dann den Feinschliff für die EM gebracht haben.
Kannst du beschreiben, wie sich dein Training verändert hat, seitdem du mit Tim Moriau zusammenarbeitest?
Richard Ringer: Das Wichtigste ist wohl, dass immer die Qualität des Trainings zählt und wir nicht allein auf riesige Umfänge setzen. Mein längster Dauerlauf seit Olympia war beispielsweise 30 Kilometer lang.
Viele andere Marathonläufer laufen im Training deutlich länger …
Richard Ringer: … ja, aber ich habe am Tag vor dem Dreißiger sechsmal 3 Kilometer gemacht, jeweils in gesteigertem Tempo: 3:15, 3:05, 2:55 Minuten pro Kilometer und dann einen Kilometer in 3:45 Minuten als Pause. Mit Ein- und Auslaufen sind das dann ja auch mehr als 30 Kilometer. Danach bist du eigentlich kaputt, aber am nächsten Tag stehen dann 30 Kilometer auf dem Programm, die du gesteigert läufst, sodass die letzten fünf Kilometer in 15:20 Minuten absolviert werden. Es gibt einfach keine langen Dauerläufe, die in einem gleichmäßigen Tempo von 4:00 Minuten pro Kilometer oder so gelaufen werden. Das ging schon im Winter los, da war ich in Dubai und habe 200-Meter-Intervalle gemacht. Achtmal in 26 bis 27 Sekunden und danach nochmal 1000 Meter in 3:20 Minuten. Diese für einen Marathonläufer kurzen Intervalle haben mich sehr nach vorn gebracht. Und es war schon Hitzetraining für die EM im August, denn in Dubai ist es ja auch im Winter sehr warm.
Ich glaube, das Publikum hat dafür gesorgt, dass ich die Schmerzen ignorieren und zum Sieg spurten konnte. Ich wollte dem Publikum mit der Goldmedaille einfach etwas zurückgeben.
Richard Ringer über die Stimmung am Münchner Odeonsplatz und auf der Strecke
Hat das dazu geführt, dass du in München so einen Endspurt hinlegen konntest?
Richard Ringer: Es hat die Grundlagen geschaffen, aber was dann im Rennen wirklich am Ende passiert ist, lässt sich kaum erklären. Ich glaube, das Publikum hat dafür gesorgt, dass ich die Schmerzen ignorieren konnte. Bei meinem Marathondebüt in Valencia hat der letzte Kilometer in 3:14 Minuten genauso weh getan wie in München der letzte in 2:50. Aber mental ist das eben was ganz anderes, wenn dich tausende nach vorn schreien und klatschen. Ich wollte dem Publikum einfach etwas zurückgeben.
Woran liegt es für dich, dass sich der deutsche Marathonlauf in den letzten Jahren so atemberaubend entwickelt hat?
Richard Ringer: Sehr viele Athleten waren auf der Bahn nicht mehr zufrieden. Dort gibt es viel weniger Zuschauer, und viel weniger Aufmerksamkeit als auf der Straße, wo du als Top-Athlet mit tausenden Hobbyläufern ins Rennen gehst und wo auch viel mehr Zuschauer am Streckenrand stehen. Deshalb sind viele von der Bahn zum Marathon gewechselt. Der Pool an talentierten Marathonläufern ist größer geworden. Außerdem sind die Schuhe besser geworden und die Wettkampfverpflegung auch. Ich persönlich hatte zudem das Gefühl, auf der Bahn ausgereizt zu sein. Dann kam auch noch Corona, und ich war an der Plantarsehne ziemlich übel verletzt. Als ich wieder gesund war, habe ich gedacht: „Jetzt versuche ich es im Marathon.“ 2018 hatte ich ja in Frankfurt schon mal für Arne Gabius Tempo gemacht. Da habe ich gesehen, dass in meinem Körper ein guter Marathon steckt.
Wo führt dein Weg noch hin?
Richard Ringer: Das weiß ich nicht, ich will mir auf jeden Fall keine Grenzen setzen. Ich bin jetzt bei solchen Temperaturen in einem nicht gleichmäßigen Meisterschaftstrennen ohne Tempomacher und mit vielen Attacken 2:10:21 Stunden gelaufen …
… also kann man sich ausrechnen, dass bei optimalen Bedingungen 2:06 oder sogar 2:05 Stunden möglich sind?
Richard Ringer: Ja, das ist ja ungefähr eine Drei-Minuten-Pace pro Kilometer. Warum sollte man das bei perfekten Bedingungen, guten Tempomachern und ohne Stress an den Verpflegungsstellen nicht laufen können?