Olympia-Sprinterin Gina Lückenkemper
„Ob Laufen oder Sprinten: Am Ende ist die Technik entscheidend“
Gina Lückenkemper ist die schnellste Deutsche der letzten 30 Jahre. In Paris will sie am Freitag und Samstag ins 100-Meter-Finale laufen. Wir haben mit ihr aber auch übers lange Laufen gesprochen.
Gina Lückenkemper, wie wird man eigentlich so schnell über 100 Meter, wie du es bist? 10,95 Sekunden ist ja schneller als in einer 30er-Zone erlaubt. Das entspricht 33 km/h. Die meisten von uns Läufern sind froh, so ein Tempo auf dem Fahrrad zu erreichen …
Gina Lückenkemper: … mit Training.
Aber das allein kann es ja nicht sein. Sonst könnten alle, die es wollen, so schnell sprinten.
Gina Lückenkemper: Ein gewisses Grundtalent braucht man schon, aber am Ende bleibt eine Menge Training. Auch um die individuell perfekte Technik einzuschleifen. Die Technik ist fürs schnelle Sprinten absolut entscheidend.
Hat die mit der Technik beim Laufen, wie es Millionen betreiben, etwas gemeinsam?
Gina Lückenkemper: Ehrlich gesagt: Fast nichts. Wann immer ich mich mit Läuferinnen oder Läufern darüber unterhalte, kommen wir zu der Erkenntnis, dass die Lauftechnik beim ausdauernden Laufen auf langen Strecken eine komplett andere ist als beim Sprinten. Das sind zwei vollkommen verschiedene Sportarten.
Läuft eine Sprinterin beim Training auch mal im Joggingtempo?
Gina Lückenkemper: Nur zum Aufwärmen. Zwei Runden um den Platz. Aber auch die nicht am Stück. Die Geraden laufe ich, in den Kurven wird gegangen. In der Vorbereitung auf die Olympiasaison waren meine längste Strecke, die ich am Stück gelaufen bin, 450 Meter.
Wusstest du schon immer, dass du Sprinterin bist und dass lange Laufstrecken nichts für dich sind?
Gina Lückenkemper: Nein, gar nicht. Als Kind bin ich auch die längeren Strecken gelaufen. Ich habe mit Leichtathletik angefangen, als ich sieben Jahre alt war. In einer Gruppe mit 30 Kindern. Da sind wir echt viel gelaufen und ich habe auch Wettkämpfe von 800 Metern bis fünf Kilometer absolviert. Mit elf habe ich sogar mal bei einem Zehn-Kilometer-Rennen mitgemacht.
Und wie hast du dann gemerkt, dass der Sprint viel mehr dein Ding ist?
Gina Lückenkemper: Als Kind habe ich neben dem Laufen auch fast alle anderen Leichtathletik-Disziplinen mal ausprobiert. Sogar Stabhochsprung. Aber dann kam der Zeitpunkt, an dem man im Wettkampf 100 Meter läuft. Vorher sprintet man als Kind kürzere Strecken, 50 Meter, 75 Meter. Aber als ich mit 13, 14 Jahren die 100 Meter laufen durfte, hat sich herauskristallisiert, dass ich wirklich schnell bin.
Mit Dackelhündin Akira zur Einkleidung für ihre dritten Olympischen Spiele
Hast du da schon daran gedacht, irgendwann mal bei Olympia zu starten?
Gina Lückenkemper: Da noch nicht, aber kurze Zeit später. Das war 2012, als ich mit 15 Jahren zum ersten Mal im Nationaltrikot für Deutschland gestartet bin. Ich war stolz, bei einem U20-Länderkampf gegen Frankreich und Italien früh in der Saison dabei zu sein. Da durften bis zu 19 Jahre alte Jugendliche mitmachen, ich war zwar die Jüngste im Team, habe aber beschlossen, dass ich danach im selben Sommer auch zu den U20-Weltmeisterschaften fahren wollte. Das habe ich geschafft und war dann bei den Weltmeisterschaften in Barcelona wieder die Jüngste im deutschen Team. Und dann waren in dem Sommer auch noch die Olympischen Spiele in London, die ich besonders intensiv verfolgt habe. Da wurde mir klar, dass ich irgendwann auch mal bei Olympia dabei sein will.
Und jetzt erlebst du in Paris schon deine dritten Olympische Spielen. Was ist für dich die größte Veränderung in der Herangehensweise, seit du 2016 in Rio de Janeiro zum ersten Mal dabei warst? Damals bist du über 200 Meter direkt mal ins Halbfinale gesprintet und mit der 4x100-Meter Staffel Vierte geworden.
Gina Lückenkemper: In meiner persönlichen Herangehensweise hat sich kaum etwas geändert. Ich freue mich auf die Wettkämpfe. Ich habe mich gut vorbereitet. Ich habe gut trainiert, genauso wie in den Jahren zuvor. Ich hoffe einfach auf tolle olympische Spiele und glaube, dass mich meine Corona-Erkrankung aus dem Juli nicht mehr beeinträchtigt.
Was ist dein Ziel für Paris?
Gina Lückenkemper: Ich möchte in mein erstes Olympiafinale über 100 Meter kommen.
Rückblick: 2022 feierte Gina Lückenkemper EM-Gold über 100 Meter und mit der Staffel
- Fotos: imago images
Dein bisher erfolgreichstes Jahr war 2022, als du in München in einem Wahnsinnsfinale Europameisterin über 100 Meter geworden bist und Gold mit der 4x100-Meter-Staffel gewonnen hast. Anschließend wurdest du auch noch zu Deutschlands „Sportlerin des Jahres“ gewählt. Was hat sich dadurch für dich verändert?
Gina Lückenkemper: Nicht viel, außer, dass ich vielleicht bei Leichtathletikveranstaltungen oder generell auch häufiger mal erkannt werde. Aber angesprochen werde ich kaum. Ich hoffe auch sehr, dass ich ein passendes Umfeld habe, das mir hilft, so zu bleiben, wie ich bin. Am Ende bin ich halt auch nur ein Mensch. Ein Mensch, der ein bisschen schneller laufen kann als die meisten anderen.
Dein bisher schnellstes 100-Meter-Rennen bist du vor mittlerweile sieben Jahren gelaufen, als du 2017 bei den Weltmeisterschaften in London mit 10,95 Sekunden ins Halbfinale eingezogen bist. Was muss passieren, damit du noch schneller läufst?
Gina Lückenkemper: Mich nervt, wenn eine Athletin nur über ihre Bestzeit definiert wird. Die persönliche Bestleistung zeigt lediglich das Potenzial an. Ich finde den Durchschnitt der zehn besten Zeiten pro Saison viel entscheidender. Da bin ich seit 2017 konstant schnell. Natürlich will ich auch noch schneller laufen und halte das auch in dieser Saison nicht für ausgeschlossen, aber man sollte die Performance in der Leichtathletik nicht ausschließlich an der Verbesserung von Bestleistungen festmachen.
Du trainierst seit dem Jahreswechsel 2019/2020 in den USA bei deinem Coach Lance Brauman. Wie läuft die Zusammenarbeit?
Gina Lückenkemper: Im Winter lebe ich die meiste Zeit in Florida. In der Vorbereitung auf die Olympiasaison war ich im November und Dezember in Clermont. Die Weihnachtsfeiertage habe ich aber in Deutschland verbracht, ich bin auch sehr Familienmensch und brauche das, um mich gut zu fühlen. Von Januar bis Ende Mai habe ich die meiste Zeit in den USA gelebt und trainiert. Jetzt im Sommer bin ich in Deutschland, weil die Wettkämpfe ja auch in Europa sind. In dieser Zeit bin ich mit meinem Coach per WhatsApp im Austausch, schicke ihm Videos, die er analysiert, um das Training auch aus der Distanz optimal zu gestalten.
Wie unterscheidet sich dein Alltag in den USA von dem in Deutschland?
Gina Lückenkemper: In den USA ist das Training mein einziger Lebensinhalt. Es ist ein Dauertrainingslager. Training, Essen, Regeneration. Und dann wieder von vorn.
Hat sich dein Training auch verändert, seitdem du zu Lance Brauman gewechselt bist?
Gina Lückenkemper: Ja. In meinen Augen ist das Training intensiver und intelligenter geworden. Mit längeren Regenerationsphasen, um die nötige Intensität in den Einheiten erzielen zu können. Wir absolvieren immer nur eine Trainingseinheit am Tag. Wenn wir auf der Bahn waren, geht es danach noch in den Kraftraum. Direkt − und nicht erst nach einer Mittagspause. So entsteht eine längere Regenerationsphase bis zum nächsten Tag, in der wir uns erholen können. Außerdem hat meine ganze Trainingsgruppe einmal pro Woche theoretischen Unterricht, in dem über den Sprint geredet und Technik anhand von Videos analysiert wird – das habe ich in Deutschland noch nie erlebt. Es hilft ungemein, zu verstehen, was wir auf der Bahn machen sollen. Aber wir schreiben keine Klausuren …
… eure Prüfung findet ja auch im Wettkampf auf der Bahn statt. Vermisst du eigentlich dein Pferd Picasso, wenn du in Florida bist?
Gina Lückenkemper: Ja klar, auch wenn er natürlich auch ohne mich gut versorgt ist. Er ist seit 2016 an meiner Seite. Und ich reite, seitdem ich fünf Jahre alt bin. In der Zeit mit meinem Pferd kann ich abschalten. Wenn ich zuhause ankomme, fahre ich immer als erstes zum Stall.
Ablenkung vom Sprinten findet Gina Lückenkemper bei ihrem Pferd
Betrachtest du es als Sport, wenn du ihn reitest?
Gina Lückenkemper: Es ist mein Freizeitvergnügen, sportliche Ambitionen wie beim Turnierreiten habe ich da nicht. Oft gehe ich auch mit Picasso lieber eine Runde spazieren. Ob ich ihn reite, hängt immer von meinem Körpergefühl, aber auch vom Pferd ab. Manchmal merke ich beim Putzen schon, dass er keinen guten Tag hat, da brauche ich mich da auch nicht draufsetzen. Und umgekehrt gilt das auch: Wenn ich merke, dass das Reiten mir und meinem Sprint nicht gut bekommen würde, gehen wir spazieren. Für mich steht immer die gemeinsame Zeit mit dem Pferd im Vordergrund. Dabei bekomme ich den Kopf frei und dafür muss ich mich nicht immer in den Sattel setzen.
Andere schaffen das beim Laufen. Kannst du dir das auch vorstellen, irgendwann mal für den Spaß und die Gesundheit joggen zu gehen?
Gina Lückenkemper: Aktuell nicht. Aber es wird wahrscheinlich irgendwann so sein. Einfach, weil ich nicht so gut stillsitzen kann, sondern lieber in Bewegung bin.
Können Hobbyläufer, die ihre eigene Leistung verbessern wollen, irgendetwas von Weltklassesprinterinnen lernen?
Gina Lückenkemper: Ich glaube, dass sich alle viel stärker mit dem Thema Lauftechnik auseinandersetzen sollten. Das Thema Lauftechnik wird auf den längeren Strecken komplett unterschätzt. Mit dem richtigen Laufstil lassen sich auch Verletzungen vermeiden. Deshalb ist es auch beim langen Laufen wichtig, immer an der richtigen Technik zu arbeiten.
Zur Person: Gina Lückenkemper
Mit einer Bestleistung von 10,95 Sekunden schaffte Gina Lückenkemper bei den Weltmeisterschaften in London 2017 das, was einer deutschen Sprinterin zuletzt 26 Jahre zuvor gelungen war: Sie blieb zum ersten Mal unter den magischen 11 Sekunden. Das gleiche gelang ihr auch bei der Heim-EM in Berlin 2018. Sowohl im Halbfinale als auch im Endlauf sprintete sie 10,98 Sekunden und gewann damit Silber. Unvergessen aber wird wohl das Jahr 2022 bleiben, in dem sie zuerst mit der Staffel bei der WM zu Bronze sprintete. Bei der Heim-EM sicherte sie sich mit einem Zielsprung in 10,99 Sekunden phänomenal Gold über 100 Meter und ließ dann mit der Staffel noch einmal Gold folgen. Am Ende des Jahres wurde sie zu Deutschlands Sportlerin des Jahres gewählt. Angefangen mit der Leichtathletik hat sie in ihrer Heimatstadt Soest beim TuS Ampen im Schüleralter. Mittlerweile lebt die Wirtschaftspsychologie-Studentin in der Nähe von Bamberg – einen Großteil des Jahres hält sie sich allerdings zum Training in Clermont (US-Bundesstaat Florida) auf. Bei Olympia in Paris tritt sie am Freitag (2. August) um 10:35 Uhr zur ersten Runde über 100 Meter an. Darauf folgt der Vorlauf um 11:50 Uhr. Am Samstagabend (19:11 und 21:20 Uhr) stehen dann Halbfinale und Finale auf dem Programm, deren Erreichen das große Ziel für Gina Lückenkemper sind.