Läuferin des Jahres 2021
Sandra Morchner: Masters-Rekorde für den verstorbenen Coach
Sandra Morchner lief beim BMW Berlin-Marathon mit 50 Jahren 2:39:36 Stunden. Kurz danach starb ihr Trainer Winfried Aufenanger. Ihm widmet sie ihre Erfolge des Jahres 2021.
Die von German Road Races und laufen.de gekürte Läuferin des Jahres 2021 heißt Sandra Morchner. Die 50-Jährige glänzte 2021 mit kaum für möglich gehaltenen Leistungen. Die Spätstarterin begann erst vor fünf Jahren mit dem ambitionierten Laufen und hält seit dem BMW Berlin-Marathon und den Deutschen Halbmarathonmeisterschaften neben den deutschen W50-Rekorden über 5.000 und 10.000 Meter auf der Bahn auch die über 10, 42,195 und 21,0975 Kilometer auf der Straße. Überschattet wurde dieses Erfolgsjahr allerdings durch den Tod ihres Entdeckers, Mentors und Trainers Winfried Aufenanger.
Im Frühjahr 2016 reiste eine Hobbyläuferin von Sylt nach Albufeira. Zusammen mit ein paar Laufkolleginnen und Kollegen wollte sie einfach Spaß haben, das Laufen unter südlicher Sonne und das schöne Leben in einem guten Hotel genießen. Klar, man lief viel, war schon frühmorgens unterwegs und traf immer mal wieder auch ein paar der Spitzenläuferinnen und Läufer aus ganz Deutschland, die zum gleichen Zeitpunkt im Trainingslager in Portugal waren. Aber Ambitionen auf Top-Zeiten? Die hatte Sandra Morchner damals noch nicht.
Es war erst ein paar Jahre her, dass sie ihren Vollzeitjob als Bürokauffrau in eine Teilzeitstelle umgewandelt hatte. Um einfach mehr vom Leben zu haben. Damals war sie 39 Jahre alt. Und die neugewonnene Freizeit wollte gefüllt werden. Dass Laufen ihr neuer Tagesinhalt wurde, war Zufall. Sie hatte schon immer viel Sport gemacht. Ballett in ihrer Kindheit, später hat sie sich im Fitnessstudio in Form gehalten. Aber Laufen? Gehörte erstmal nur auf dem Laufband im Studio zu ihrem Programm. „Irgendwann habe ich das dann auch mal draußen ausprobiert. Und entdeckt, dass mir das Spaß macht“, erinnert sie sich. Sie lief immer mehr. Um den Kopf freizubekommen, um abzuschalten. Um fit und gesund zu bleiben. „Und weil mir dabei die besten Ideen kamen.“
2016 war sie dann so weit, dass sie sogar zum Laufen in den Urlaub fuhr. Nach Portugal. Wo zu diesem Zeitpunkt auch der Kasseler Coach Winfried Aufenanger mit seinen Athletinnen und Athleten im Trainingslager war. Und dem fiel Sandra Morchner auf. Dem ehemaligen Bundestrainer im Deutschen Leichtathletik-Verband war sofort klar: Das ist ein Talent. Zwar nicht mehr das jüngste Talent, aber mit einer außergewöhnlichen Begabung fürs schnelle und ausdauernde Laufen. Und so kam es, dass der Hesse, der in der Szene schon längst eine Legende war, das Training der damals 45-Jährigen übernahm. In Fernbetreuung, schließlich lebt Sandra Morchner so weit nördlich wie es in Deutschland überhaupt nur geht. Auf Sylt. Gut 500 Kilometer weg von Kassel, wo Winfried Aufenanger nach vielen Jahren als Trainer des PSV Grün-Weiß 2018 das Laufteam Kassel gegründet hat, in dem auch die aktuell beste deutsche Marathonläuferin Melat Kejeta trainiert.
„Er hat in mir etwas gesehen, dass ich nicht erkannt habe“, sagt Sandra Morchner, „seine Überzeugungskraft hat mich auch daran glauben lassen.“ Mit dem Training und der Betreuung von Winfried Aufenanger entwickelte sich Sandra Morchner zu einer der besten Läuferinnen Deutschlands – wenn man Alter und Laufleistung in Relation zueinander setzt. Beim BMW Berlin-Marathon steigerte sie sich mit mittlerweile 50 Jahren auf 2:39:36 Stunden. Deutscher Rekord in der Klasse W50. Dafür musste sie 42-mal hintereinander den Kilometer in 3:47 Minuten laufen. Um das zu schaffen, hat sie in der Vorbereitung bis zu 170 Kilometer in der Woche absolviert.
Schneller waren 2021 unter den Deutschen nur die sieben Läuferinnen, die sich Chancen ausrechnen, bei den Europameisterschaften in München nächsten Sommer zu jenem deutschen Marathonteam zu gehören, das als Medaillenkandidat ins Rennen geht. Weltweit gab es allerdings noch zwei schnellere Läuferinnen in diesem Alter: Den inoffiziellen Masters-Weltrekord für über 50-Jährige hält im Marathon Tatyana Pozdnyakova aus der Ukraine, die 2005 in Los Angeles die 42,195 Kilometer in unglaublichen 2:31:05 Stunden lief. Und 2012 finishte die US-Amerikanerin Linda Somers Smith laut dem Internetportal mastersathletics.net im texanischen Houston nach 2:37:36 Stunden.
Den Halbmarathonrekord ist Sandra Morchner für ihren verstorbenen Coach Winfried Aufenanger gelaufen
Als sie in Berlin überglücklich das Ziel mit der neuen deutschen Bestleistung erreichte, ahnte sie noch nicht, dass es das letzte Rennen sein würde, bei dem sie von Winfried Aufenanger betreut wurde. Ihr Coach starb nur 14 Tage später am 10. Oktober in Kassel mit 74 Jahren. In seinem Umfeld wusste man zwar schon länger, dass er schwer krank war. Seine Krebserkrankung war seit einigen Jahren bekannt. „Aber dass es dann so schnell gehen würde, hat niemand erwartet“, erinnert sich Sandra Morchner an den Anruf, durch den sie erfuhr, dass ihr Trainer und Mentor verstorben war. „Sein Tod hat mich ins Mark getroffen.“
Dennoch stand sie nur ein Wochenende später wieder an der Startlinie zu einem wichtigen Rennen. „Winfried hätte das so gewollt. Ich bin für ihn gelaufen. Das war mein Antrieb“, sagt Sandra Morchner über ihren Start bei den Deutschen Meisterschaften im Halbmarathon am 17. Oktober. In 1:15:13 Stunden lieferte sie erneut eine großartige Leistung ab. Lief auch über die halbe Distanz deutschen und Europarekord. Nur kurz wurde sie von den Gedanken an den Tod ihres Trainers aus dem Rennen gerissen. „Nach so zwei, drei Kilometern habe ich daran gedacht, dass er jetzt nicht irgendwo am Rand der Strecke stehen kann, wie sonst immer. Aber dann bin ich weitergelaufen. Für Winfried.“
Wie es jetzt weitergeht mit ihrem Training, weiß sie noch nicht so genau. Aber auf jeden Fall wird es weitergehen. Sie liebt das Laufen. Sogar dann, wenn sie – wie auf Sylt so oft - gegen einen strammen Wind laufen muss. Größere Waldstücke gibt es auf der Insel nicht, und so ist Sandra Morchner beim Training Wind und Wetter ausgesetzt. Aber das hat auch Vorteile. „Wenn die anderen sich bei Wettkämpfen über den Wind Gedanken machen, denke ich immer: Das ist doch nur ein laues Lüftchen.“ Als Sylterin lernt man eben, den Wind als Trainingspartner zu akzeptieren. „Ich laufe meistens so, dass ich auf dem Hinweg Gegenwind habe, so dass er auf dem Rückweg von hinten kommt. Und das Laufen gegen den Wind trainiert dich ja auch gut.“
Für 2022 peilt sie jetzt vor allem Starts bei den internationalen Titelkämpfen der Masters an. Die Weltmeisterschaften sind für den nächsten Juli im finnischen Tampere geplant. Über welche Strecke sie dort an den Start gehen wird, ist noch offen. Sie hat auf jeden Fall gute Chancen auf eine vordere Platzierung. Und eine WM-Medaille fehlt ihr noch in der Sammlung. Sollte das klappen, wird sie sicher auch die ihrem Entdecker, Mentor und Coach Winfried Aufenanger widmen.