Laufen mit Sehbehinderung
Seite an Seite im Laufschritt
Wenn Blinde laufen wollen, sind sie meist auf Hilfe von Begleitenden angewiesen. Dieses „Guiderunning“ ist keine Raketenwissenschaft. Das größte Problem ist, Blinde und Begleitende zusammenzubringen.
Vielleicht war die Frage ja gar nicht böse oder herabwürdigend gemeint. Verletzend war sie aber dennoch. Hans-Ewald Grill erinnert sich deshalb an jenes Facebook-Posting, das nach dem „absoluten Höhepunkt meines Läuferlebens“ eintrudelte so, als würde er es zum ersten Mal lesen: „Was hat ein Blinder beim New York-Marathon zu suchen?“
Und weiter: „Er könnte genauso gut auf einem Parkplatz im Kreis rennen. Das wäre besser, weil sicherer.“ Der heute 73-jährige Hans-Ewald Grill schluckt und schüttelt den Kopf: „An manches gewöhnt man sich nie.“
Blind laufen im Selbstversuch
Auch und gerade wenn man es immer wieder hört: Als sich der blinde Wiener 2019 in New York seinen Marathon-Traum erfüllte, war das nämlich wahrlich nicht seine Langstreckenpremiere: 15-mal ist der pensionierte Telefonist die Langstrecke schon gelaufen. 1992 scheiterte er in Frankfurt um 40 Sekunden an der Drei-Stunden-Grenze. „In Rom habe ich sie noch im gleichen Jahr geknackt.“
Doch statt empathie- und respektlos Fragenden diese 2:57:34 Stunden oder seine Paralympics-Erfolge in nordischen, alpinen und – im Sommer – in Leichtathletik-Disziplinen (u.a. Fünfkampf und Mittelstreckenlauf auf der Bahn) an den Kopf zu werfen, tut Grill etwas Anderes: Er lädt zum Laufen ein.
Nach 150 bis 200 Metern haben die Meisten genug
Mit 13 Jahren verlor er bei der Explosion einer im österreichischen Salzkammergut aus einem See geholten Weltkriegsgranate mehrere Finger und das Sehvermögen. Wenn er heute Sehende zum Laufen einlädt, zaubert der Rentner eine Flugzeug-Schlafmaske aus der Tasche. Dann hängt er dem Sehenden eine elastische 40-Zentimeter-Bandschleife um den Unterarm, fädelt seinen Arm auch ein und sagt: „Los geht’s!“ Dann führt der Blinde den Sehenden. Meist auf der „Prater Hauptallee“, jener Asphaltpiste im Wiener Prater, auf der der ehemalige kenianische Marathon-Weltrekordler Eliud Kipchoge 2020 die Marathondistanz in unter zwei Stunden lief.
Aber so lange hält niemand durch. Die Wenigsten schaffen auch „nur“ einmal die 4,5 Kilometer lange Strecke: Nach 150 oder 200 Metern reicht es den meisten. Wenn sie dann die Maske abnehmen, sind sie verwundert, wie kurz sie unterwegs waren, erzählt der blinde Läufer schmunzelnd: „Diese 20 Meter sind meist intensiver als ein ganzer Marathon: Plötzlich hört man jedes Knacken im Holz. Fühlt die kleinste Asphaltunebenheit. Riecht intensiver. Und spürt sogar Temperaturunterschiede, wenn Licht und Schatten wechseln.“ Aber vor allem: Man unterstellt nie wieder, dass Blinde beim New York-Marathon fehl am Platz sind. Oder auf irgendeiner anderen Laufstrecke.
Veronika Aigner fährt nicht nur Ski – beim Laufen orientiert sie sich allein am Klang der Schritte ihrer Guides
Blinde – politisch korrekt nicht-sehende und sehschwache Personen – laufen in der Regel nicht alleine, sondern mit sogenannten Begleitläuferinnen oder Begleitläufern. Schulter an Schulter. Die Rolle ähnelt der des Co-Piloten beim Rallye-Fahren: Wenn der dem Fahrer sagt „Obacht, da kommt was“ hat das bei 120 Stundenkilometern ebenso wenig Nutzwert wie beim Laufen. „Bordsteinkante in fünf Metern“ oder „komm einen Schritt nach links“ dagegen sind brauchbare Informationen.
Je eingespielter und erfahrener so ein „Gespann“ ist, umso präziser und reduzierter funktioniert diese Kommunikation: „Manche wollen, dass jeder Kanaldeckel angesagt wird. Mir genügen Randsteine und Kurven“, erklärt der blinde Wiener Läufer und Triathlet Patrick Bitzinger. Auch die österreichische Skifahrerin Veronika Aigner, die bei Paralympics zweimal Gold gewann, läuft. Sie orientiert sich sogar bei Läufen mit über 10.000 Teilnehmenden allein an Klang der Schritte ihres Guides.
Das Problem: Wie kommen Blinde und Begleitende zusammen?
In den meisten Fällen verbindet aber ein (elastisches) am Unterarm getragenes Band Geführte und Begleiter. Lose, aber spürbar: „Ich spüre, wie mein Guide sich bewegt und das gibt mir Sicherheit,“ erklärt Patrick Bitzinger. Und Hans-Ewald Grill fasst zusammen: „Begleitlaufen ist keine geheime Kunst: Wer will, lernt es rasch. Das Problem ist, Begleiter bzw. Begleiterin und Begleitete zusammenzubringen.“
Nicht nur in Wien, sondern auch in Deutschland. Und erst recht an der „Basis“, also fernab von Leistungs- und Ligasport. „Laufen, Walken oder Wandern sind tolle Sportarten, um blinde Menschen zu mobilisieren“, sagt Juliana Löffler. Darum hat die ehemalige Krankenschwester aus Kefferhausen in Thüringen schon 2012 in „ihrem“ Laufclub, dem LAC Eichsfeld, eine Abteilung für „sinneseingeschränkte Läuferinnen und Läufer“ gegründet: Die unter dem – selbstgewählten – Namen „Blindschleichen“ antretenden „Tandems“ sind bei Laufevents nicht nur in der Region längst Fixstarter.
Juliana Löffler und Hans-Reinhard Hupe gründeten das „Guidenetzwerk Deutschland“
Begonnen, erzählt die 61-Jährige, habe das, als „ich meinen voll-blinden Partner Hans-Reinhard zu seinem 50. Geburtstag über die 72 Kilometer des Rennsteiges begleitet habe. Auf der Ziellinie haben wir uns gesagt: Das sollte für alle möglich sein.“
Also gründeten Juliana Löffler und Hans-Reinhard Hupe nach den „Blindschleichen“ bald eine „Blindenlaufschule“. Hier lernen nicht Blinde laufen, sondern Sehende begleiten. 2021 stellten Löffler und Hupe dann das „Guidenetzwerk Deutschland“ online.
Fast 1500 registrierte Mitglieder
Schon der erste Satz der Homepage macht klar, worum es geht: „Die Suche nach einem Guide stellt seheingeschränkte Sportler:innen vor große Herausforderungen und kann im schlechtesten Fall dazu führen, dass diese ihren Sport nicht ausüben können“, heißt es da. Und weiter: „Bundesweit gibt es keine Registrierungen, Meldekarteien und Suchoptionen, die (…) die Möglichkeit eröffnen, selbstständig einen passenden Guide zu finden. Diese Lücke soll mit diesem Netzwerk geschlossen werden.“
Derzeit, erzählt Juliana Löffler stolz, seien bundesweit 1450 Mitglieder registriert, knapp über 300 sind blind, die anderen stehen als Guides zur Verfügung. Männer und Frauen halten sich in beiden Gruppen die Waage. „Bei den Guides stellen ‚junge‘, fitte Rentner die Mehrheit: Sie sind aktiv, haben Zeit und wollen sie sinnvoll nutzen.“ Danach kämen tatsächlich junge und wettkampforientierte „starke“ Athletinnen: „Die wissen, dass man auch als Sehender oder Sehende gute Betreuung braucht, um Leistung zu bringen – und wollen etwas zurückgeben.“
Träume wahr werden lassen
Wobei die Blinden, die sich beim „Netzwerk“ melden, an Wettkämpfe oft noch nicht einmal im Entferntesten denken: „Das sind meist Personen, die noch nie wirklich gelaufen sind, aber es immer schon wollten. Es gab aber niemanden, mit dem sie es hätten versuchen können.“
Dabei, wiederholt Juliana Löffler, was auch Hans-Ewald Grill mantraartig predigt, braucht es dafür gar nicht viel: „Begleitlaufen ist keine Raketenwissenschaft. Aber es öffnet ein ganzes Universum an Möglichkeiten, Wegen und Träumen – die plötzlich wahr werden können.“ Etwa den von der Ziellinie des New York-Marathons.