Gender Run
Was Läuferinnen und Läufer unterscheidet
Genetische Unterschiede zwischen Frau und Mann bewirken Unterschiede in Hormonhaushalt, Körperzusammensetzung und Energiestoffwechsel. Und damit auch in der sportlichen Leistungsfähigkeit.
In der Biologie gibt es keine Genderdebatte. Frau und Mann sind über ihre Geschlechtschromosomen – XX bei „ihr“, XY bei „ihm“ – klar definiert. Dieser scheinbar so kleine Unterschied hat für die körperliche Leistungsfähigkeit erhebliche Konsequenzen. Doch die weibliche Leistungsdiagnostik führte jahrzehntelang ein Schattendasein – ein Relikt aus Zeiten, in denen Frauensport als „unschicklich“ galt.
Ohne wissenschaftliche Basis wurde die weibliche Physiologie für wenig belastungstauglich erklärt. Die feminine Leistungsexplosion hat gerade in den Ausdauerdisziplinen aber eine deutliche Antwort gegeben. Die Wissenschaft ist nun dabei, die Unterschiede zwischen Frau und Mann hinsichtlich Hormonhaushalt, Muskel-Fett-Verhältnis, Immunsystem und Fett-Kohlenhydrat-Verwertung mit der sportlichen Leistung und Trainingsgestaltung abzugleichen.
Die äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale sind das eine. Entscheidend für die sportliche Leistungsfähigkeit ist aber das, was sich im Körper abspielt: in Muskeln, Herz und Lunge. Auf allen Ebenen gibt es maßgeblich über den Hormonhaushalt gesteuerte Unterschiede zwischen Adam und Eva.
Unterschiede beim Muskel-Fett-Verhältnis:
Frauen weisen einen höheren Körperfettanteil auf. Bei männlichen Spitzenläufern meist deutlich unter 10 Prozent liegend, beträgt er bei Läuferinnen dieses Leistungsniveaus 15 bis 20 Prozent. Dieses Mehr an Fett betrifft nicht allein das Unterhautfettgewebe, sondern auch den Fettgehalt der Muskeln. Anfang dieses Jahrtausends haben mehrere Forschungsteams nachgewiesen, dass der höhere weibliche Muskelfettanteil auch mit einem im Vergleich zu Männern höheren Fettverbrennungsrate bei gleicher Belastungshöhe einhergeht. Für aerobe Ausdauerleistungen, deren Energiedeckung größtenteils über die Fettverbrennung läuft, sind Frauen somit im Vorteil.
Unterschiede bei Herz und Lunge:
Ausdauertrainierte Frauen bilden kleinere Sportherzen als Männer und ihre Hauptschlagader ist dünner. Damit müssen weibliche Herzen bei gleicher Belastung mit höherer Frequenz schlagen, um genug Sauerstoff in die Muskeln zu transportieren. Das sollte bei der Belastungssteuerung über die Herzfrequenz Berücksichtigung finden, was aber in vielen Trainingsprogrammen nicht der Fall ist.
Weibliche Muskulatur übersäuert schneller
Die „VO2max“, die bei voller Ausbelastung maximal vom Körper verwertbar aufgenommene Sauerstoffmenge, dient als Kenngröße für die Ausdauerleistungsfähigkeit. Auch hier gibt es ein „Gender Gap“ von 10 bis 12 Prozent, was zudem mit einer niedrigeren weiblichen Sauerstofftransportkapazität im Blut (weniger Eisen und Hämoglobin) korreliert. Als Konsequenz beginnt die Muskulatur der Frau früher zu übersäuern, was ja immer dann passiert, wenn zu wenig Sauerstoff für die ausreichende Fettverbrennung verfügbar ist und vermehrt Kohlenhydrate anaerob zu Milchsäure (teil)abgebaut werden.
Eine der bedeutsamsten Wirkungen des Ausdauertrainings ist die Vermehrung der Mitochondrien in den Muskelzellen, also jener „Kraftwerke“, in denen die entscheidenden energieliefernden Prozesse des aeroben Fett- und Kohlenhydratabbaus stattfinden. Auch auf dieser Ebene gibt es Unterschiede zwischen „ihr“ und „ihm“. Die weiblichen Muskelfasern weisen kleinere und weniger Mitochondrien in ihren deutlich dünneren und dadurch weniger kraftvollen Muskelfasern auf.
Hinzu kommen Unterschiede in den Aktivitäten zentraler Enzyme des Energiestoffwechsels, die unter Kontrolle der Geschlechtshormone stehen und darüber entscheiden, wie gut Fette und Kohlenhydrate zur Energiegewinnung abgebaut werden. Weniger Muskeln, kleineres Herz, niedrigere VO2max – da liegt die Vermutung nah, Frauen seien in Sachen Ausdauer benachteiligt. Weit gefehlt, denn die Geschlechtshormone drehen den Spieß um. Östrogene der Frauen und Androgene der Männer nehmen entscheidenden Einfluss auf die Fett- und Kohlenhydratverwertung sowie die Ansprechbarkeit auf Trainingsreize.
Frauen für lange Ausdauerbelastungen prädestiniert
Wichtige Erkenntnisse dazu haben Forschungsarbeiten an der Universität Erlangen-Nürnberg unter Leitung von Dr. Leonard Fraunberger geliefert. Dabei wurde deutlich, dass Frauen aufgrund ihrer Östrogendominanz für lange Ausdauerbelastungen prädestiniert sind. Den Männern beschert ihr hoher Testosteronspiegel zwar mehr Masse an Muskeln, die höhere Maximalkraft entwickeln und schnellkräftiger arbeiten.
Aber im Bereich Ausdauer schenkt die höhere Östrogenproduktion den Läuferinnen eine effektivere Fettverbrennung im aeroben Belastungsbereich, die umso stärker zum Tragen kommt, je länger die Distanzen werden. Während „er“ schon verstärkt seine knappen Kohlenhydratdepots anzapfen muss, deckt „sie“ ihren Energiebedarf immer noch größtenteils aus dem ergiebigen Fettvorrat. Aber das ist nicht der einzige Bonus, der weibliche Muskeln zu Ausdauerspezialisten macht.
„Zum Sprinter musst du geboren sein!“, heißt es. Die Ursache dahinter: Der Anteil hohe Kraft entwickelnder, schnell kontrahierender und durch einen geringen Myoglobin- und Mitochondriengehalt weiß erscheinender FT-Muskelfasern („Fast Twitch“) ist weitgehend genetisch determiniert. Auch mit gezieltem Training lässt sich Sprintstärke nur geringfügig durch verbesserte Nerv-Muskel-Koordination erhöhen. Seine Energie bezieht dieser Fasertyp über den vergleichsweise ineffizienten anaeroben Teilabbau von Kohlenhydraten, was schnelle Ermüdung zur Folge hat.
Ausdauerfähigkeit besser trainierbar als Sprintfähigkeit
Demgegenüber ist die muskuläre Ausdauerleistungsfähigkeit weniger im „genetischen Korsett“ gefangen und besser trainierbar. Und dies gilt neueren Erkenntnissen zufolge besonders für Frauen. Zwar bekommt jede(r) qua Geburt eine individuelle Ausstattung an roten, myoglobin-/mitochondrienreichen und dadurch auf aeroben Fettabbau fokussierten ST-Muskelfasern („Slow Twitch“) mit auf den Lebensweg.
Der Anteil dieser ermüdungsresistenten Ausdauerfasern scheint aber wesentlich besser auf adäquate Trainingsreize zu reagieren als die schnellen, rasch ermüdenden FT-Fasern. Es gilt als gesichert, dass regelmäßiges Ausdauertraining eine Erhöhung des roten Muskelfaseranteils durch eine Umwandlung von schnellen FT- in ausdauernde ST-Fasern generiert. Und dieser Mechanismus scheint bei Frauen besonders gut zu funktionieren.
Dass Läuferinnen ihren höheren Muskelfettanteil mit einer im Vergleich zu Männern höheren Fettverbrennungsrate effizient nutzen können und zudem besonders gut die „fettfressenden“ roten Muskelfasern aufbauen, hat Konsequenzen für ihre sportartgerechte Ernährung. Hinsichtlich der Aufnahme von Fetten sollten sich laufende Frauen nicht kasteien. Von einer zu starken Reduzierung des Körperfettanteils ist nicht nur aus energetischer, sondern auch aus wärmeisolatorischer und immunologischer Sicht abzuraten. Wer mehr friert, „verpulvert“ Energie, die besser in die sportliche Leistungserbringung investiert wäre.
Unterschiedlicher Körperfettanteil bei Frauen und Männern
Körperfettanteil | |||
Normal | Spitzenläufer/in | Gesundheitsgefahr | |
Frauen | 20-30 % | 15-20 % | ab Werten <13 % |
Männer | 10-20 % | 8-13 % | ab Werten <6 % |
Auf Fette und Kohlenhydrate achten
Zudem geht eine zu starke Körperfettreduktion mit einer erhöhten Infektanfälligkeit einher. Männer hingegen, die nicht so gut Fett verbrennen, aber genug Wärme produzierende Muskulatur am Körper tragen, sollten beim Fett etwas stringenter auf das richtige Maß achten – insbesondere, wenn eine Veranlagung zur Deponierung im Bauchraum vorliegt.
Allerdings bedeutet ein unbeschwerter Fettverzehr für Läuferinnen keinesfalls, die Kohlenhydrataufnahme massiv zu reduzieren. Ein Mindestmaß an Kohlenhydraten wird für das Zünden der Fettverbrennung benötigt – ein schon in den 1930er-Jahren aufgedeckter Mechanismus, der heute bei allzu strikten „Low-Carb“-Verfechtern vergessen scheint. Nach wie vor gilt, dass die Versorgung mit schnell verfügbarer Energie aus den nur in geringem Umfang in Muskeln und Leber speicherbaren Kohlenhydraten der leistungslimitierende Faktor ist, auch bei fettverwertungsoptimierten Frauen.
Sind die Frauen ob ihrer guten Östrogenversorgung ohnehin schon für Ausdauer prädestiniert, scheint ihr Potenzial damit nicht ausgeschöpft. Auch die menstruationszyklischen Östrogenschwankungen lassen sich zur Trainingsoptimierung nutzen. Da die Fettverbrennungseffizienz mit der Höhe des Östrogenspiegels steigt, ist die fettabhängige aerobe Grundlagenausdauer besonders gut in der Phase nach dem Eisprung trainierbar.
Dagegen wird das stärker von Kohlenhydratenergie abhängige Tempo- und Krafttraining besser in Vor-Eisprungphasen (niedriger Östrogenspiegel) gelegt. Eine entsprechende Nährstoffgewichtung beim Essen rundet die Sache ab. Belastbare Zahlen zur Höhe des darin steckenden Leistungsverbesserungspotenzials stehen allerdings noch aus.
Gibt es die „Männergrippe“?
Leistung ist das eine, Gesundheit das Wichtigere! Sind Frauen weniger wehleidig oder ist die „Männergrippe“ echt? Hormon- und Genetikexperten geben klare Antworten. Östrogene stellen via Genregulation besonders die erste, von Entzündungsreaktionen getragene Abwehrlinie im Kampf gegen Krankheitserreger scharf.
Einen weiteren genetischen Bonus stellt der Immunologe Dr. Jakob Nilsson vom Universitätsspital Zürich heraus: „Frauen haben einen Vorteil, da sie über zwei X-Chromosomen verfügen. Auf diesen liegen viele Gene, die für die Abwehr zuständig sind“. Männer verfügen nur über ein X-Chromosom sowie ein kleines Y-Chromosom, dessen Gene größtenteils für die Sexualfunktion wichtig sind.
Werden beim Mann Immungene ihres X-Chromosoms beschädigt, gibt es durch das Fehlen eines zweiten keine Kompensationsmöglichkeit. „Das Testosteron hat zwar eine stimulierende Wirkung auf das unspezifische Immunsystem, unterdrückt aber die Bildung von spezifischen Abwehrzellen“, sagt Nilsson. Auch wenn Frauen somit robuster sind, gilt die Regel: Keine Anstrengung bei Infekten! Ein Erregerübertritt auf den Herzmuskel ist für beide Geschlechter brandgefährlich!
Weibliches Knie anfälliger für Verletzungen
Wenn die weibliche Physiologie für lange Laufdistanzen optimiert ist, bedeutet dies nicht, dass es die Anatomie auch ist. Eine baden-württembergische Analyse der Gesundheitsdaten von 3,8 Millionen Personen hat gezeigt, dass das weiblich Knie vulnerabler für Bandverletzungen und Verschleiß (Arthrose) ist. Ein wesentlicher Grund ist die zur X-Form tendierende Beinanatomie. Somit ist es auch für Frauen eine gute Empfehlung, bei Trainings- und Wettkampfumfängen maßzuhalten.
Seinen höheren Körperfettanteil mit größeren Depots in den Muskeln weiß der weibliche Organismus gut zu nutzen. Obwohl die maximale Sauerstoffaufnahme von Sportlerinnen etwa 10 bis 15 Prozent niedriger ist als die ihrer männlichen Pendants, weisen Frauen dank ihrer (je nach Zyklusphase) fünf- bis 15-mal höheren Östrogenproduktion bei Ausdauerbelastungen eine höhere Fettverbrennungsrate auf. Somit decken Frauen einen höheren Anteil ihres Energiebedarfs aus den ergiebigen Fettdepots und schonen ihre leistungslimitierenden Kohlenhydratreserven.
Differenzen zwischen Weltbestzeiten von Männern und Frauen
Je länger die gelaufene Strecke ist, desto kleiner wird der prozentuale Unterschied zwischen den Weltbestzeiten von Männern und Frauen
Distanz | Männer | Frauen | Differenz |
5000 m | 12:35 min | 14:07 min | 12,2 % |
10.000 m | 26:11 min | 29:01 min | 10,8 % |
Marathon | 2:01:39 h | 2:14:04 h | 10,2 % |
100 km | 6:09:14 h | 6:33:11 h | 6,5 % |
Eliud Kipchoge und Brigid Kosgei halten die Weltrekorde auf der Marathonstrecke.
Kosgei war bei ihrem Rekord nur 12:25 Minuten langsamer als ihr kenianischer Landsmann
Leistungsunterschied zwischen Mann und Frau rund 10 Prozent
Das männliche Testosteron dagegen hemmt den Fettabbau und pusht die anaerobe Kohlenhydratverwertung. Damit ist die Sache klar: Für langes aerobes Laufen sind Frauen wie geschaffen. Dagegen sind Männer mit ihren 10- bis 20-fach höheren Testosteronkonzentrationen, die ihnen voluminösere, eiweißreichere Muskeln bringt, bei Kraft und Schnellkraft das „starke“ Geschlecht.
Der Mann-Frau-Leistungsunterschied in den klassischen Langlaufdisziplinen (bis Marathon) liegt gegenwärtig im Bereich von 10 Prozent. Die Ultradistanzen zeigen, dass der männliche Leistungsvorsprung schrumpft, je länger die Strecken werden. Anders ausgedrückt: In der Welt der „Ultras“ sind Frauen auf der Überholspur. Aber bitte nicht überpacen, weibliche Knie sind sensibler.