Ausdauer-Limit
Wie der Darm die Leistungsgrenzen des Menschen definiert
Marathon unter zwei Stunden, immer längere Ultradistanzen. Ein Limit der menschlichen Ausdauerleistungsfähigkeit scheint nicht in Sicht. „Doch“, sagt die Forschung, eine Bremse versteckt sich im Darm.
Das Ausreizen der eigenen Leistungsgrenzen hat einen besonderen Nervenkitzel. Vermutlich hat sich jede Läuferin und jeder Läufer schon einmal die Frage nach dem Limit der eigenen sportlichen Leistungsfähigkeit gestellt.
Na klar – Training, Ernährung, Regenration, das alles lässt sich optimieren. Aber schon der Blick auf die Körperproportionen eines Eliud Kipchoge oder einer Brigid Kosgei, Marathon-Weltrekordler bzw. -rekorlderin, zeigt, dass Leistungsfähigkeit auch von nicht beeinflussbaren Faktoren abhängt. Aber auch für diese Profis wird doch die Leistung nicht unbegrenzt steigerbar sein – oder?
Ideale Hebelverhältnisse – aber nicht für alle
Bei den nicht beeinflussbaren Leistungslimitierungen gilt es zwischen individuellen Leistungsgrenzen und jenen zu unterscheiden, die alle Menschen betreffen. Am deutlichsten wird dies am Bespiel der genannten Körperproportionen. Die ostafrikanischen Weltklassemarathonis verfügen durch relativ zur Körpergröße lange, mit schlanken roten Ausdauermuskeln bestückte Extremitäten über ideale Hebelverhältnisse für raumgreifende, ökonomische Schritte.
Diese Anatomie ist ebenso genetisch prädisponiert wie der gedrungene Oberkörper mit voluminösem Thorax, der beste Voraussetzungen für ein immenses Atemzugvolumen und hohe maximale Sauerstoffaufnahmekapazität (VO2max) liefert. Diese für das ausdauernde Laufen idealen Anlagen sind in indigenen ostafrikanischen Völkergruppen sozusagen „in die Wiege gelegt“.
Gibt es eine absolute Leistungsgrenze?
Dennoch bleiben es individuelle oder allenfalls gruppenspezifische Leistungsdeterminanten, die in anderen Regionen nicht in dieser Breite anzutreffen sind. Wem eine derartige erbliche Konstellation fehlt, muss mit einer niedrigeren persönlich erreichbaren Leistungsgrenze leben.
Aber gibt es ein absolutes oberes Limit für die Ausdauerleistung? Gibt es einen „Deckel“, der unabhängig von individuellen genetischen Variationen die gesamte Menschheit betrifft, der sich auch unter optimalen Trainings-, Ernährungs- und Außenbedingungen nicht anheben lässt? Die Wissenschaft ist womöglich auf eine solche Grenze gestoßen.
Ausdauerleistung setzt sich aus vielen Bausteinen zusammen
Wo liegen die absoluten Grenzen der Optimierbarkeit, wo jene Limits, die von der Genetik, der Anatomie, der Biochemie und nicht zuletzt der Psyche des menschlichen Organismus vorgegeben werden? Und wann sind sie erreicht? Da sich die Ausdauerleistung aus vielen Mosaiksteinen zusammensetzt, bedarf es einer vielschichtigen Grenzsuche. Grob lassen sich vier Bereichen unterscheiden:
- muskuloskletettale Faktoren (Muskeln, Faszien, Knochen, Gelenke, Sehnen, Bänder)
- Herz-Kreislauf-System
- Pulmonalsystem (Lunge, Atmung)
- Energiestoffwechsel (aerobe, anaerobe Nährstoffverwertung)
Selbstredend sind all diese Bereiche miteinander verzahnt. Herz-Kreislauf- und Atmungssystem hängen direkt zusammen und keine Muskelzelle könnte sich ohne Zwischenschaltung einer Vielzahl von Stoffwechselprozessen die Energie aus oral zugeführter Nahrung nutzbar machen.
Forschende entdecken Obergrenze für Ausdauerleistung
Trotz dieser Verstrickungen lässt sich zum Beispiel im muskuloskelletalen System zwischen mechanischen und biochemischen Leistungsschranken differenzieren. Dabei sind muskuläre Überlastung (Mikrofaserrisse, Übersäuerung durch Laktatbildung) und Gelenkverschleiß (Arthrose) stark von individuellen Faktoren wie persönlichen Genvarianten, Lebensstil und Lauftechnik abhängig.
Physiologen der Duke Universität in Durham/North Carolina sind nun aber auf metabolische, also stoffwechselbedingte Faktoren gestoßen, die womöglich eine Obergrenze für die menschliche Ausdauerleistung insgesamt setzen. Sollten sich sie Befunde erhärten, werden die Ultras von morgen noch einige Streckenlängenrekorde brechen, sich aber mit Steigerungen ihrer Laufgeschwindigkeit schwertun.
Wie verändert sich die Energieumsatzrate bei extrem langen Ausdauerleistungen?
Die Durham-Forscher haben die Prozesse der Energiebereitstellung im Verlauf extremer Ausdauerleistungen analysiert, die weit über die Marathondistanz hinausgehen und sich über Tage bis Wochen erstrecken. Die Frage nach dem maximal erreichbaren Energieumsatz von Ausdauerathleten war bereits Gegenstand früherer Studien. So wurden bei Tour-de-France-Fahrern maximale Energieverbrauchsraten vom über 9-fachen und bei arktischen Trekkingläufern vom 6,6-fachen des Grundumsatzes (Energieverbrauch in Ruhe) gemessen. Doch es wurde stets nur der punktuelle Höchstverbrauch bestimmt.
Zur Frage, ob bzw. wie sich die Energieumsatzrate im zeitlichen Verlauf extrem langer Ausdauerleistungen verändert, bestand eine Datenlücke. Die Forschenden aus Durham konnten nun Teilnehmende an einem der härtestes Ausdauerrennen der Welt, dem „Race Across the USA“ („RAUSA“) für ihre Studie gewinnen. Satte 4800 Kilometer von Huntington Beach/Kalifornien an der pazifischen Westküste bis nach Washington D.C. an der östlichen Atlantikküste gilt es bei diesem Rennen innerhalb von 20 Wochen „per Pedes“ zu bewältigen.
Kalorienumsätze reduzieren sich deutlich
Heruntergerechnet bedeutet das ein Wochenpensum von fast sechs Marathons – und das rund fünf Monate lang! Berechtigte Zweifel am gesundheitlichen „Nutzen“ dieser Belastung seien an dieser Stelle ausgeklammert. Das Interesse galt dem Energieumsatz. Und der veränderte sich über die Renndauer erheblich. Nach den 20 „Multi-Marathon-Wochen“ hatte sich der tägliche Energieumsatz der Teilnehmenden um durchschnittlich 600 Kilokalorien reduziert.
Der Vergleich mit den aus früheren Studien bekannten Energieverbrauchsdaten von Ultraathleten und -athletinnen im Triathlon-, Rad- und Treckingbereich bestätigte die dort gemessenen hohen punktuellen Maximalwerte. Doch können diese nur über relativ kurze Belastungszeiten gehalten werden. Die RAUSA-Teilnehmenden zeigten, dass der Energiestoffwechsel anfangs mit enormen Kalorienumsätzen arbeitet, die sich im zeitlichen Verlauf des 20-wöchigen Rennens aber deutlich reduzieren. Studienautor Prof. Herman Pontzer vergleicht den Abfall der Energiestoffwechselrate bei langen Ausdauerbelastungen mit der Reduktion der Laufgeschwindigkeit mit zunehmender Streckenlänge.
Der Darm hat eine begrenzte Nährstoffaufnahmekapazität
Die Verringerung des Energieumsatzes bei gleichbleibend hoher Belastung erfolgt aber nicht gleichmäßig. Vielmehr fällt er bei über einen Tag hinausgehenden Ausdauerbelastungen zunächst rasch ab, sinkt dann mit Fortdauer des Rennes deutlich langsamer, um sich schließlich auf einem konstanten Niveau zu stabilisieren. Dieses dann über lange Dauer haltbare Energieumsatzlevel liegt beim etwa 2,5-Fachen des Grundumsatzes und stellt demnach die Obergrenzte des Energieverbrauchs für weit über die Marathondistanz hinausgehende Belastungen dar.
Immer wieder ist zu lesen, dass Extremsportler und -sportlerinnen gar nicht so viel essen können, wie sie verbrauchen und daher auf hochkalorische Konzentrate angewiesen sind. Wenn sich die Erkenntnisse aus Durham bewahrheiten, ist aber nicht die Unfähigkeit, genug zu „mampfen“ der entscheidende Leistungsdeckel. Das haben Überfütterungsstudien gezeigt, in denen die Duke-Forschenden ihre Probandinnen und Probanden mit deutlich mehr Tageskalorien versorgten als diese verbrauchten.
Das Limit für den Dauer-Energieverbrauch wird nach Einschätzung der Expertinnen und Experten von der begrenzten Nährstoffaufnahmekapazität im Darm vorgegeben. Größere Nährstoffmengen, als sie dem 2,5-Fachen des Grundumsatzes entsprechen, können nicht über Tage und Wochen aus dem Darm ins Blut resorbiert werden. Da helfen auch keine hochkalorischen Gele und Drinks.
Immer weiter? Ja! Immer schneller? Nein!
Wenn die Muskeln schneller Energie verbrauchen als der Metabolismus sie selbst aus der am schnellsten verdaulichen Kost nachliefern kann, ist das Leistungslimit erreicht. Jedes weitere verbrauchssteigernde Moment wird unmöglich oder nur mit kompensierenden Einbußen erreichbar, etwa mit deutlicher Temporeduktion bei Anstiegen oder koordinativen Einbußen (Sturzgefahr!) bei Tempoerhöhung.
Welcher biologische Sinn könnte hinter dem Verbrauchslimit stehen? Die Reduktion seines Energieverbrauchs befähigt den Organismus länger durchzuhalten. Unseren jagend-sammelnden Urahnen half das bei der langwierigen Nahrungsbeschaffung und über Mangelperioden hinweg. Heutigen „Ultras“ ermöglicht es die Bewältigung von Coast-to-Coast-Läufen durch die USA.
Natürlich geht das „nur“ im niedrigen Intensitätsbereich. Jede Temposteigerung bedürfte einer Erhöhung des Energienachschubs, der aber nicht erreichbar ist, wenn der Organismus bereits seit Tagen auf seinem „2,5-mal-Grundumsatz-Limit“ arbeitet. Was bedeutet das für unsere Rekordsucht? Kurz gesagt: weiter ja, schneller nein! Seitens der Streckenlängen ist momentan kein Ende des Immer-weiter-Dranges abzusehen, wohl aber bezüglich des Tempos, mit dem Ultradistanzen absolviert werden. Der Intensität setzt der Darm Grenzen.
Unser Verdauungstrakt kann pro Tag nur eine begrenzte Kalorienmenge effektiv verwerten.
Prof. Hermann Pontzer
Lange Ausdauerbelastungen fördern Bakterium, das sich von Laktat ernährt
Die Besiedlung unseres Darms mit einer riesigen Zahl verschiedenartiger Bakterien, Viren und weiterer Mikroben – das Darm-Mikrobiom (DM) – ist in den letzten Jahren als wichtiger Gesundheits- und Leistungsfaktor erkannt worden. Die Zusammensetzung des individuellen DM wird maßgeblich vom Lebensstil bestimmt, von Ernährung, Rauchen, Alkohol, Bewegung und Stress.
Zu den letzten beiden Punkten haben Bostoner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Spannendes im Hinblick auf die Ausdauerleistungsfähigkeit ermittelt. Nach extensiven Belastungen durchgeführte Stuhl-Analysen von Ausdauerathletinnen und -athleten zeigten einen signifikant erhöhten Gehalt einer speziellen Bakterienart namens „Villanella atypica“.
Offenbar aktivieren lange Ausdauerbelastungen die Vermehrung dieses Bakteriums, das eine hoch relevante Eigenschaft besitzt. Es ernährt sich ausschließlich von Laktat, also von jener Milchsäure, die beim anaeroben Kohlenhydratabbau entsteht und die Muskeln „sauer“ werden lässt. Während bei kürzeren, vorwiegend durch Fettverbrennung getragenen Ausdauereinheiten vergleichsweise wenig Laktat gebildet wird, kann auf langen Distanzen die angehäufte Laktatmenge zum leistungslimitierenden Faktor werden.
Nervosität und Stress sind schlecht für die Leistung
Ein hoher Gehalt an Villanella-Bakterien im DM sorgt für einen schnelleren Laktatabbau und verzögert somit das „Sauerwerden“ der Muskeln. Zur Prüfung ihrer Erkenntnisse besiedelten die Forscher den Darm von Mäusen mit dem Laktat-abbauenden Bakterium. Und tatsächlich ermüdeten die Nager im Laufradtest deutlich später als ihre nicht „gedopten“ Artgenossen.
Nervosität und Stress sind der Ausdauerleistung abträglich – besonders, wenn die Anspannung zum Dauerzustand wird. Dass dabei das DM eine zentrale Rolle spielt, haben Wissenschaftler der „Offenen Universität Kataloniens“ in Barcelona nachgewiesen. Die häufige Kombination aus körperlicher und psychischer Belastung, wie sie etwa bei einem dichten Wettkampfkalender zum Tragen kommt, verändert demnach die Zusammensetzung und Aktivität des DM.
Darauf reagiert das nicht unserem Willen unterworfene vegetative Nervensystem, wodurch die Ausschüttung von Stresshormonen und entzündungsfördernden Botenstoffen forciert wird. Das sensible biochemische Gleichgewicht des Energiestoffwechsels wird aus der Balance gebracht. Der „Treibstoffnachschub“ lahmt und wertvolle Energie geht für Stressreaktionen verloren – die Leistungsfähigkeit sinkt.
Der auf das 2,5-fache des Ruheumsatzes limitierte Energieumsatz ...
... bei langen Ausdauerbelastungen wird durch die begrenzte Nährstoffaufnahme im Darm bestimmt. Da hilft auch keine Erhöhung der Energiezufuhr.
Der Darm spielt eine entscheidende Rolle
Unser Darm ist also ein bedeutsames Rädchen im Leistungsgetriebe. Die limitierte Kapazität der Nährstoffaufnahme und die Besiedlung des Darms scheinen maßgeblich die Grenzen der Ausdauerleistung zu bestimmen. Wie ein Sprinter, der sein Maximaltempo nur wenige Meter durchsteht, kann der Darm eine hohe Energienachfrage, die über das 2,5-Fache des Grundumsatzes hinausgeht, nicht auf lange Dauer bedienen.
Dieses „Sparprogramm“ erhöht das Durchhaltevermögen bei gedeckelter Belastungsintensität. So lassen sich zwar keine Ultradistanzen durchsprinten, aber wochenlang täglich Marathons laufen. Dazu braucht es aber auch geeignete Untermieter im Darm, die das gebildete Laktat begierig abbauen und so die ermüdende „Versauerungsgrenze“ nach hinten verschieben.
Grenze bei Ultraläufen nicht abzusehen
Wie wird es weitergehen? Für kürzere Ausdauerbelastungen wie einen Marathon geben die neuen Erkenntnisse keine konkreten Grenzen vor, da hier Energieumsatze, die deutlich über dem 2,5-Fachen des Grundumsatzes liegen, möglich sind. Bei welchen Zeiten und Distanzen der Extrembereich ausgereizt sein wird, lässt sich gegenwärtig nicht beziffern.
Die Ultraszene scheint gerade auszutesten, wie lange und weit Menschen ohne längere Pausen überhaupt laufen können. Ob hier energetische oder eher orthopädische Probleme die Grenzzieher sein werden, wird sich zeigen. Möge beim Begehen solch extremer Pfade die Gesundheit nicht auf der Strecke bleiben.