Großglockner Ultratrail
Stresstest am Gletscher
Unser Chefredakteur Christian Ermert hat sich beim Großglockner-Ultratrail Tipps vom Sieger geholt. Wie die beiden aktuelle Entwicklungen in der Trailrunningszene diskutiert haben, liest du hier.
Im Anblick der faszinierenden Gletscher und der vielen über 3000 Meter hohen Gipfel am Großglockner gehen mir die Worte durch den Kopf, die mir Rosanna Buchauer am Tag vor dem Rennen mit auf den Weg gegeben hatte. „Als Einsteiger solltest du vor allem genießen und dich nicht unter Druck setzen“, hatte mir die Profiläuferin aus dem Dynafit-Team geraten. Sie sollte am Ende als dritte Frau das 57-Kilometer-Rennen beim Großglockner-Ultratrail nach gut sieben Stunden beenden. Ich werde am Ende in der gleichen Zeit die 35 Kilometer des „Einsteigerrennens“ absolviert haben.
Mit Genuss hat das, was ich da auf einem Teil des „Weißsee Gletscherwelt Trail“ veranstalte, aber nur bedingt zu tun. Obwohl die Landschaft rund um den höchsten Berg Österreichs fantastisch ist, fühle ich mich unter Druck gesetzt. Dafür kann allerdings keiner was – außer ich selbst. Nach wochenlangem Training mit vielen langen Läufen auf flachen Strecken in Köln am Rhein und vielen Intervalleinheiten, fühle ich mich fit genug für einen Lauf in den Alpen. Auch wenn der von 1483 Metern über dem Meer zunächst auf 2315 Meter führt, um dann die Teilnehmerinnen und Teilnehmer 400 Höhenmeter bergab zu schicken, bevor nach einem weiteren Anstieg der mit 2639 Metern höchste Punkt der Strecke erreicht wird.
Stress. Wenn man eins nicht erleben soll, bei einem Trailrun durch die majestätische Bergwelt der Alpen, dann das. Ich habe aber Stress.
Christian
Hochgefühl auf den Almwiesen
Dass ich tatsächlich fit genug bin, merke ich auf den ersten fast 1000 Höhenmetern bergauf. Die führen vom Enzingerboden, der Talstation der Seilbahn, mit der auch normale Touristen den Gletschern im Nationalpark Hohe Tauern nahekommen können, zur Mittelstation an der Rudolfshütte. Es ist zu steil zum Laufen, aber mit schnellen Gehschritten komme ich gut voran. Sobald es flacher wird, fühlt sich das Laufen über die Almhochflächen zu Füßen der Bergriesen wie Fliegen an. In diesem Hochgefühl komme ich schon nach einer guten Stunde gemeinsam mit vielen erfahrenen Trailrunnern an der Rudolfshütte an, wo die erste Verpflegungsstation eingerichtet ist.
Doch dann geht’s bergab. „Technisch schwierig“ stand in der Streckenbeschreibung. Okay, beim Bergwandern bin ich auch bergab immer zügig unterwegs, dachte ich beim Lesen. Und jetzt das. Ein schmaler, kaum zu erkennender Pfad über große Felsen und Ge-röll, dazwischen immer wieder durch den vielen Regen des Sommers 2021 aufgeweichte Grasstücke. Neben der Pfadspur sind entweder noch größere Felsen, tückisches Geröll oder kaum zu durchdringender Bewuchs. Überholen? Unmöglich. Und so habe ich das Gefühl, mit meinem langsamen Tempo das Feld des Rennens hinter mir zu stauen.
Bergab rast der Puls genauso wie bergauf
Das will ich nicht. Also gebe ich Gas. Renne so schnell bergab, wie es irgendwie geht. Der Puls ist genauso hoch wie in den steilen Bergaufpassagen zuvor. Kann doch gar nicht sein, denke ich mir und renne weiter. Weil ich das nicht geübt habe, muss ich mich extrem konzentrieren. Doch dann passiert es. Über große Felsen geht es durch eine sumpfige Senke. Ich setze einen Schritt nicht richtig, rutsche am Stein ab und versinke mit dem einen Bein bis zum Knie im Schlamm, das andere schlage ich mir an dem Felsen blutig. Kurzer Schreck, nichts kaputt außer dem bisschen Haut am Knie und weiter geht’s.
Irgendwie muss ich den zweiten Ratschlag verdrängen, den mir Rosanna Buchauer gegeben hatte: „Schnelle Downhills im Hochgebirge schafft man nur, wenn man das nicht nur übt, sondern auch mit dem übrigen Training unterstützt. Krafttraining gehört auf jeden Fall dazu. Aber am wichtigsten ist es, das Bergablaufen langsam zu steigern, sonst kann es zum Problem für die Knie werden.“ Geübt habe ich das nur einmal im Sommerurlaub im Bayerischen Wald, aber das ist mit dem Hochgebirge nicht zu vergleichen. Das bisschen Krafttraining daheim rettet mich jetzt auch nicht. Und zum langsam Steigern ist es längst zu spät. Nach den ersten 400 Höhenmetern steil bergab warten noch gut 1800 weitere auf mich, bis ich wieder in Kaprun bin, wo auf 800 Metern über dem Meer das Ziel ist.
Aber dann ist die erste Passage geschafft und es geht wieder bergauf – von 2000 Metern auf den Höhepunkt der Strecke. Das Kapruner Törl ist mit 2639 Metern fast so hoch wie der Watzmann. Und das ist immerhin der zweithöchste Berg in Deutschland. Aber bergauf kann ich. Das ist in der Höhe zwar anstrengend, aber beherrschbar. Und der Ausblick auf die Gletscherwelt der nördlichen Glocknergruppe belohnt für alle Strapazen.
Jetzt weiß ich, was ein anderer Star der Szene meint, wenn er die Faszination des Trailrunnings beschreibt. Daniel Jung ist im Südtiroler Vinschgau aufgewachsen, wo er bis heute lebt. Schon als kleiner Junge hat er viel Zeit mit den Tieren der Familie auf Almen im Hochgebirge verbracht. „Da hieß es immer: Du bist noch jung, lauf‘ du den Tieren hinterher und bring sie am Abend wieder in den Stall“, erinnert er sich an die Worte seines Opas. „Dabei habe ich wahrscheinlich schon einige Grundlagen gelegt fürs Trailrunning“, sagt der 37-Jährige. Bis er 30 war, ist er Mountainbikerennen gefahren. Seit er sich vor sechseinhalb Jahren davon verabschiedet hat, ist er im Trailrunning kontinuierlich besser geworden und gehört schon lange zu den Besten. Am Großglockner gewann er das längste Rennen, das wegen in der Nacht drohender Gewitter von 110 auf 80 Kilometer verkürzt werden musste. Er brauchte für die 80 Kilometer mit 5500 Höhenmetern im Aufstieg nur acht Stunden und 52 Minuten. War also auf der mehr als doppelt so langen Strecke keine zwei Stunden länger unterwegs als ich auf meinen 35 Kilometern.
Auf den Höhenwegen ist man eins mit der Natur
Dabei trainiert er so ganz anders als man das von einem Hochleistungsathleten erwarten würde. „Ich habe keinen Plan, trainiere nach Lust und Laune und trinke auch mal ganz gern ein Bier oder einen Wein zur Pizza“, sagt er, „wenn ich mich gut fühle, mache ich länger, wenn nicht, höre ich früher auf.“ Länger heißt für ihn, dass er sechs, sieben oder noch mehr Stunden in den Bergen läuft. Dabei absolviert er oft an einem Tag Höhenwege, auf denen sonst Bergwanderer von Hütte zu Hütte gehen und dafür eine ganze Woche brauchen. „Die Höhenwege sind meine Passion. Die habe ich grade in der Corona-Pandemie ausgelebt, als es keine Wettkämpfe gab. Da ist man eins mit der Natur und kann alles selbst gestalten, das ist mir fast lieber als die Wettkämpfe“, sagt Daniel Jung. Für ihn ist Trailrunning in erster Linie ein Naturerlebnis – weit weg von Menschenmassen und Straßen. „Ich bin sehr gern allein in den Bergen unterwegs und genieße die Ruhe“, erklärt er.
Ironman steigt ins Trailrunning ein
Und so kann er den aktuellen Bestrebungen, den Trailsport stärker zu kommerzialisieren, nicht besonders viel abgewinnen. In diesem Jahr ist das deutsche Ironman-Unternehmen ins Trailrunning eingestiegen. Unter der Marke Ironman werden seit Jahren höchst erfolgreich viele große, aus 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Radfahren und dem abschließenden Marathon bestehende Triathlons weltweit betrieben. Das Mutterunternehmen aus den USA hat ein florierendes System aus Lizenzen für die Marke geschaffen und damit ein Qualifikationssystem in allen Alters- und Leistungsklassen für die Weltmeisterschaften beim Ironman-Triathlon in Hawaii etabliert.
Etwas ähnliches plant Ironman jetzt in Kooperation mit den Veranstaltern des Ultratrails am Mont Blanc (UTMB). Die neue UTMB-World Series soll ab 2022 zur bedeutendsten Trailrunning-Serie der Welt werden. Die Rennen am höchsten Berg Europas sollen künftig unter dem Titel „UTMB World Series Finals“ zu einer Art Trailrunning-Weltmeisterschaft über 50, 100 und 160 Kilometer werden. Das sind die Distanzen, die traditionell beim UTMB angeboten werden. Die Qualifikation wird dann nur noch bei solchen Trailrunning-Events möglich sein, die das Label UTMB führen. „Die UTMB World Series wird damit die einzige Veranstaltungsreihe sein, über die die Läufer ihre Reise zum Mont Blanc in Frankreich antreten können, indem sie sich für das fulminante UTMB World Series Finale qualifizieren“, heißt es in einer Pressemitteilung der neuen Partner Ironman und UTMB. Die Rennen sollen auf allen sechs Kontinenten stattfinden. So könnte mehr Geld in den Sport fließen und Trailrunning könnte nach dem Vorbild des Triathlons mehr Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erhalten.
Doch viele Trailrunner sehen das kritisch. Auch Daniel Jung: „Ich befürchte, dass das Trailrunning einen Teil seines Charmes verlieren könnte“, sagt er. „Wenn nicht so große finanzielle Interessen dahinterstecken, laufen die Leute mehr aus Leidenschaft und Passion in den Bergen. Mehr Geld kann dazu führen, dass sich das ändert.“
Nur sehr bedingt fürs Fernsehen geeignet
Dass sich bisher außer den klassischen Herstellern von Outdoor- und Lauf-Equipment kaum große Sponsoren fürs Trailrunning interessieren, liegt für Daniel Jung in der Natur der Sportart. „Wenn wir über 100 Kilometer in den Bergen laufen, sind auch die schnellsten länger als zwölf Stunden unterwegs. Wie will man so etwas übertragen?“, fragt er. Und in der Tat: Solche Rennen beispielsweise im Fernsehen zu zeigen, ist fast unmöglich. Der Start erfolgt meistens mitten in der Nacht in kleinen Bergorten. Dann sind die Athletinnen und Athleten stundenlang – teilweise im Dunkeln – in unwegsamem Gelände unterwegs. Wie soll man das filmen und TV-gerecht inszenieren? Man kann ja nicht – wie bei den großen Radrennen oder Triathlons – Motorräder mit Kameraleuten auf die Strecke schicken. Und so wird für die meisten Trail-Enthusiasten der Sport bleiben, was er ist – eine einzigartige Möglichkeit, großartige Naturerlebnisse mit der Erfahrung der eigenen körperlichen Grenzen zu kombinieren.
Beim Großglockner-Ultratrail erlebe ich das dann auch selbst. Nach der Überschreitung des Kapruner Törls geht es noch fast 2000 Höhenmeter hinab nach Kaprun. Anfangs über steile Geröll- und Schneefelder, dann entlang von Stauseen und durch den Bergwald. Ich habe kurz hinter dem Dach meines Trailrun-Abenteuers am Kapruner Törl einfach neben dem Pfad gewartet, bis die meisten der schnellen Leute vorbei waren. Und dann den langen Weg ins Tal in dem Tempo absolviert, das meine vom ersten steilen, schnellen Abstieg geschundenen Beine noch hergaben. Zwar anstrengend, aber ganz ohne Stress und Druck. Genau wie es mir Rosanna Buchauer und Daniel Jung empfohlen hatten.