Inkontinenz überwunden
Wie sich Patricia Siegel das Laufen zurückerkämpfte
Was tun, wenn man das Laufen liebt, aber es nicht mehr darf? Aufgeben? Nicht mit Patricia Siegel. Nach Problemen nach der Geburt ihrer Tochter kämpfte sie dafür, endlich wieder laufen zu können.
Für viele ist laufen gehen viel mehr als nur ein Sport. Es ist Seelenheil, Ausgleich zum Alltag und die Möglichkeit, Stress abzubauen. Und wie schrecklich ist es, wenn einem das verboten wird? Genau so ging es Patricia Siegel.
Sport hat im Leben der heute 41-Jährigen schon immer eine große Rolle gespielt. Laufen hat sie in ihrer Heimat Potsdam einige Jahre neben dem Sportstudium als Leistungssport betrieben. Später bekommt sie ein Sportstipendium für eine Universität in New York und läuft dort für das Uni-Team bei Wettkämpfen auf der Mittelstrecke oder im Cross.

Sport? Immer schon wichtig für Patricia Siegel
Und auch als sie später in den USA bleibt und dort arbeitet, ist Sport immer ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Als sie von der Ost- an die Westküste zieht, beginnt sie mit Triathlon. Und so ist es für sie auch völlig selbstverständlich, dass sie weiter Sport macht, als sie schwanger wird. „Bis zum vierten Monat war ich noch jeden Tag laufen“, erzählt sie. „Aber da es mir dann wirklich schwerfiel, bin ich dann aufs Schwimmen umgestiegen.“
Jeden Tag zieht sie ihre Bahnen und legt 1200 bis 1600 Meter zurück. Bis zur Geburt. „Jeder hat mir gesagt, ich sei so fit, das werde bestimmt eine ganz einfache Geburt“, blickt sie zurück. Doch es kommt anders. Patricia Siegel will eigentlich in einem Geburtshaus entbinden. Nach 38 Stunden Wehen und keinerlei Fortschritt bei der Geburt lässt sie sich dann doch in ein Krankenhaus einweisen.
Geburt nach 57 Stunden Wehen
„Das war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte“, sagt sie rückblickend. Auch wenn es ihr im ersten Moment wie eine Niederlage vorkommt. Nach 57 Stunden in den Wehen bringt sie ihre Tochter zur Welt – die Nabelschnur zweimal um den Hals gewickelt und als Sternengucker, eine Geburtsposition des Kindes, die die Geburt komplizierter und schmerzhafter macht. Und die durchaus auch Folgen für die Mutter haben kann.
Denn eine solche Geburt kann den Beckenboden einer Frau noch mehr belasten als er es bei einer „normalen“ Geburt sowieso schon wird. Und so ist es auch bei Patricia Siegel. Sechs Wochen nach der Geburt versucht sie erstmals wieder ganz locker zu laufen. „Aber ich bin kläglich gescheitert, weil ich extreme Inkontinenz hatte.“ Wie von den Ärzten empfohlen, stoppt sie ihre Versuche sofort wieder. Sie ist frustriert. Da kann auch die Tatsache, dass es ihrer kleinen Tochter nach der schweren Geburt blendend geht, nur wenig trösten.

Große Sehnsucht nach dem Laufen
„Ich bin dann aufs Radfahren und Schwimmen umgestiegen, um irgendetwas zu machen“, erzählt sie. „Aber ich war wirklich sehr deprimiert, dass ich nicht laufen konnte.“ Sie schwimmt, sie wandert, sie fährt Rad – und will aber am liebsten das tun, was sie schon immer getan hat: laufen gehen. Aber das verbieten ihr die Ärzte.
In Deutschland machen die meisten Frauen nach einer Geburt einen von der Krankenkasse finanziell unterstützten Rückbildungskurs. „Wenn man Glück hat, werden in den USA sechs Einheiten Beckenbodentherapie von der Krankenkasse bezahlt“, erzählt Patricia Siegel. „Danach kostet eine Stunde Therapie 200 US-Dollar.“ Die Situation belastet sie sehr. Laufen war immer etwas, was ihrem Leben Sinn gegeben hatte. Und jetzt darf sie es nicht tun.
Jeder Versuch scheitert
Immer wieder, wenn sie wieder einen neuen Versuch startet, nässt sie ihre Unterwäsche und Hose komplett ein. Und sie beendet den Versuch wieder. Aber nach 15 Monaten Inkontinenz und Laufverbot hat sie genug. „Ich habe mich stur gestellt: Ich gehe jetzt wieder laufen und ich werde es schaffen, egal, was die anderen sagen.“ Und so trägt sie beim Laufen Inkontinenz-Einlagen. Aber das kann ja nicht die Lösung sein.
„Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es nicht richtig ist, was die Therapeuten sagen“, erklärt sie. Sie selbst hat in Deutschland eine Ausbildung zur Sporttherapeutin gemacht. „Aber oft ist man selbst die Expertin und hört trotzdem auf andere Leute, obwohl man das ein halbes Jahrzehnt lang studiert hat. Ich stand mir da selbst im Weg.“
Patricia Siegel geht das Problem an - mit einer eigenen Lösung
Ihre Überlegung ist jetzt: Der Beckenboden ist ein Gerüst aus Muskeln. Wenn man diese nicht benutzt, werden sie immer schwächer. Viel besser ist es, sie wie andere Muskeln auch zu trainieren. Also beginnt Patricia Siegel, ihr eigenes holistisches Beckenbodentraining zu entwickeln, um sich selbst zu helfen.
Das Wissen dazu hat sie als Diplom-Sportwissenschaftlerin ohne Frage. Das Programm, dass sie sich nun selbst entwickelt, unterscheidet sich dabei vom traditionellen Beckenbodentraining, bei dem oftmals nur gezielt die Beckenbodenmuskulatur trainiert wird. „Aber diese Therapie vergisst, dass die Beckenbodenmuskulatur direkt mit der Bein-, Bauch- und Rückenmuskulatur verbunden ist.“ Ihr ganzheitliches, funktionelles Programm bezieht diese Muskeln mit ein – und es stellen sich sofort die ersten positiven Veränderungen ein.

Inkontinenz? Heute ist das kein Problem mehr für Patricia Siegel
Nach drei Monaten mit ihrem Programm, 18 Monate nach der Geburt, hat Patricia Siegel ihre Probleme komplett hinter sich gelassen, die Inkontinenz gehört der Vergangenheit an. Und so sehr sie sich darüber freut, ärgert sie auch etwas: Probleme nach der Geburt sind vollkommen normal und nicht selten. Eine Geburt ist schließlich eine harte Belastung für den Körper. Und trotzdem wird das so selten thematisiert und Frauen werden mit ihren Problemen nicht selten alleingelassen.
„Eine von drei Frauen hat nach einer Geburt Probleme mit Inkontinenz, aber nur ein Viertel von ihnen holt sich Hilfe“, weiß Patricia Siegel, die sich mit dem Thema in den letzten Monaten viel auseinandergesetzt hat. Andere leiden unter Hämorrhoiden, Verstopfungen oder Schmerzen. Die Palette der Probleme ist groß. Trotzdem nehmen es nicht wenige hin. Viele Frauen schämen sich. Oder sie denken, es sei normal, nach einer Geburt Probleme zu habe.
Viele Frauen könnten viel weniger gesundheitliche Probleme haben
„Klar, Inkontinenz kommt vor. Aber es muss nicht so bleiben“, beharrt Patricia Siegel. „Rund 80 bis 90 Prozent der Frauen können Inkontinenz mit gezielten Übungen beheben.“ Und deswegen versucht sie heute, Frauen zu helfen, die nach der Geburt ihres Kindes an Problemen leiden. „Wir alle feiern die Geburt eines Kindes. Und dann? Dann lassen wir die Frauen im Stich. Das ist nicht gerecht.“
Patricia Siegel bietet heute Online-Kurse an und spricht vor frischgebackenen Müttern. Sie will damit brechen, dass die Folgen einer Geburt totgeschwiegen werden. „Ich will den Frauen zu mehr Selbstbewusstsein und Wissen verhelfen.“ Denn nur wenn darüber gesprochen wird, wird es immer mehr Frauen gelingen, die Probleme anzugehen und hinter sich zu lassen.
Denn eines ist klar: Einem Menschen das Leben zu schenken ist großartig. Es geht für die meisten Frauen aber auch mit körperlichen Wunden einher. Aber die müssen nicht ein Leben lang bleiben. Und wenn man es schafft, sie zu behandeln, kann man sein Leben uneingeschränkt führen wie zuvor. Und muss sich nicht Dinge verbieten lassen, die so essentiell für einen sind. Wie das Laufen für Patricia Siegel.